„Ich zählte kleine Toyotas“

Ein Festival chinesischer Lyrik und Prosa in der Literaturwerkstatt in der Kulturbrauerei

Es ist noch gar nicht lang her, als sich die chinesische Literatur von den Anforderungen der offiziellen Kulturpolitik löste. Zurzeit des Pekinger Frühlings, Ende der Siebzigerjahre also erst, begannen Autoren über die fatalen Folgen der chinesischen Kulturrevolution zu schreiben. Viele Lyriker suchten nach einer neuen, nicht korrumpierbaren Sprache und fanden diese nicht in der großen Politik, sondern nur noch aus streng subjektiver Sicht. Diese hermetische Lyrik wurde zum Sprachrohr der Demokratiebewegung, die 1989 mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Ende fand.

Der bekannteste Vertreter der hermetischen Lyrik, Bei Dao, dessen Gedichte Slogans für Demonstrationen wurden, ist in seiner Heimat nach wie vor mit Verhaftung bedroht und lebt seit 1989 im Exil. Bei Daos Gedichte aus dieser Zeit, die auch in deutscher Übersetzung vorliegen, beschreiben oft das autonome Subjekt und seine Verpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement.

Sein berühmtestes Gedicht „Die Antwort“, das als das Gedicht der chinesischen Jugend dieser Zeit gilt, handelt vom damaligen Tauwetter: „Die Eiszeit längst vorbei / Warum herrscht überall noch Eis? / Das Kap der guten Hoffnung ist entdeckt, / Warum messen sich im Toten Meer tausend Segel?“ Wer heute wie die Berliner Literaturwerkstatt ein chinesisches Literaturfestival organisiert, der kommt wahrscheinlich nicht daran vorbei, auch Bei Dao einzuladen, der gestern in der Kulturbrauerei aus neuen Gedichten las. Aber die Zeiten haben sich geändert, die Mehrzahl der übrigen eingeladenen chinesischen Lyriker ist zehn Jahre jünger, sie gehört einer dritten Generation chinesischer Autoren an, die die Kulturrevolution nur noch als Kind erlebt hat und anders denkt als ihre älteren Brüder.

Am Montag las in der Literaturwerkstatt zum Beispiel der in Harbin lebende, 1958 geborene Lyriker Zhang Shuguang, der sich regelrecht abarbeitet an Metaphern des Eises und Schnees, so, als suche er verzweifelt, ihnen noch Hoffnung abzuringen, was allerdings nicht mehr gelingt. Das ganze Land ist bei ihm bedeckt mit Schnee, an den kalten Wintertagen geschieht nichts, es gibt nichts zu sagen und nichts zu träumen. Nur manchmal blitzen Zeichen aus einer fernen, anderen Welt auf, „Ich zählte kleine Toyotas / Und Schuhe von Nike / Ich hoffte, etwas von Bob Dylan zu hören oder den Beatles / Ich sah draußen die Zweige brechen unter der Last des Schnees.“ Doch selbst die Veränderungen im Land, die Invasion des Westens, geben keine Hoffnung, sie stiften nur Verunsicherung: „Ein Einkaukskompass. Du gehst verloren, Ware für Ware.“

Auf der einen Seite wird bei Zhang Shuguang der Einbruch deutlich, den die Säuberungskampagnen von 1989 darstellten – die Folgen der rigiden Zensur und Verfolgung, der geistigen Stagnation des Landes, unter der die chinesische Literatur bis heute leidet. Auf der anderen Seite gehört Zhang Shuguang zu jenen Autoren, die zum erstenmal auch die Brüche und Verwerfungen des rasanten Modernisierungsprozesses in China beschreiben, eine Ortlosigkeit und Ohnmacht der Menschen. „Wenn du lebst, schon liegst du im Sterben. Dein Name, Heimat, Familie und Lebenslauf, nach Nummern zu ordnen“: Das Subjekt ist nicht mehr wie bei den Hermetikern selbstbestimmt, es besteht nur noch aus dem, was ihm zugeschrieben wird.

SUSANNE MESSMER

Heute, am letzten Abend des chinesischen Literaturfestivals, lesen Xi Yabing, Jahrgang 1971, der in Peking lebt, und Xiao Kaiyu, Jahrgang 1960, der seit 2000 vorwiegend im westlichen Ausland lebt. Xiao Kaiyu liest Gedichte, die in diesem Jahr in Deutschland entstanden sind. 20 Uhr, in der Kulturbrauerei, Knaackstr. 97, Prenzlauer Berg