Die Unschuldslämmer von Berlin

„Niemand hat die Absicht, eine Steuer zu erhöhen“, heißt es aus den rot-grünen Koalitionsverhandlungen. Stimmt nicht ganz: Der geplante Subventionsabbau erhöht die Steuerlast. Die Konjunktur wird darunter leiden, befürchtet DIW-Ökonom Vesper

von HANNES KOCH

Die erste große öffentliche Debatte nach der Bundestagswahl geriet zum Steilpass für Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD). Steuererhöhungen – ja oder nein? Mehrere Tage purzelten die Vorschläge besonders aus den SPD-regierten Bundesländern munter durcheinander. Ein halbes Dutzend Ideen waren in der Diskussion. Bevor sich jedoch der Eindruck verfestigte, die Anarchisten aus der Provinz langten der Bevölkerung ans Geld, machte der Finanzminister den starken Mann und zog seinen roten Strich.

Das Treiben vom Wochenende war Folie und Legitimation für das, was Eichel während der ersten Runde der Koalitionsverhandlung am Montagabend durchsetzte und von SPD-Fraktionschef Franz Müntefering sowie dem grünen Parteichef Fritz Kuhn verkünden ließ. „Niemand hat die Absicht, Steuern zu erhöhen“, lautete die frohe Botschaft. Ein Aufatmen ging durchs Land. Stattdessen werde Rot-Grün „Privilegien abbauen und die Ausgaben kürzen“, so Müntefering am späten Abend im gleißenden Scheinwerferlicht vor dem Hauptquartier der Grünen. Das neue Vertrauen erweckende Markenzeichen der Bundesregierung ist somit das alte: Steuern runter, keine zusätzlichen Schulden, sondern Sparpolitik.

Die Bedingungen für diese Politik werden freilich zunehmend schwierig. Eichel reduzierte seine Wachstumsprognose für 2003 und 2004 von 2,5 auf 1,5 Prozent Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Trotz schlechter Konjunktur und erwartbar steigender Ausgaben für Sozialleistungen will Rot-Grün rund 10 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt 2003 herausstreichen, um den Forderungen des europäischen Maastricht-Vertrages für den Abbau der Staatsschulden gerecht zu werden.

Das Vorhaben wird nicht eben dadurch erleichtert, dass die Koalitionäre auch noch eigene Akzente setzen wollen. Fritz Kuhn sprach von „wachstumsfreundlichem Sparen“. Soll heißen: Wenn die gesellschaftlichen Strukturen etwa modernisiert werden, indem mit vier Milliarden Euro neue Ganztagsschulen entstehen, müssen andere Ressorts auf dieses Geld auch noch verzichten – zusätzlich zu den ohnehin schon strikten Sparvorgaben aus dem Finanzministerium.

Nur einige Gruppen der SPD-Traditionsklientel bleiben von Anfang an vom Opfer auf dem Altar der Haushaltskonsolidierung verschont: Müntefering schloss aus, dass Krankenschwestern und Briefträger ihre steuerlichen Vergünstigungen für Nacht- und Sonntagsarbeit verlieren. Außerdem seien die Kohlesubventionen tabu, an deren Tropf vor allem Nordrhein-Westfalen und sein SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement hängen.

Um ihr Credo der bürgerfreundlichen Sparpolitik aufrechterhalten zu können, müssen die rot-grünen Verhandler ihre Definitionsmacht beim Begriff „Subventionsabbau“ weidlich ausnutzen. Denn hinter diesem Terminus technicus verbirgt sich nichts anderes, als der Wegfall von Steuererleichterungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Branchen. Wird zum Beispiel das Ehegattensplitting eingeschränkt, wirkt sich das als Steuererhöhung für gut verdienende Paare aus. „Es kommt zu gruppenspezifischen Zusatzbelastungen“, sagt Rüdiger Parsche vom Münchner IfO-Institut für Wirtschaftsforschung.

Dieser Mechanismus greift auch in anderen Fällen. Wenn das produzierende Gewerbe seine Bevorzugung bei der Ökosteuer teilweise verliert, steigt dort die Belastung. Franz Müntefering erklärte ausdrücklich, dass darüber „zu sprechen sein wird“. Auch die Absicht etwa des rheinland-pälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck und seiner schleswig-holsteinischen Amtskollegin Heide Simonis (beide SPD), die Vermögenssteuer wieder einzuführen und die Erbschaftssteuer zu erhöhen, wirkt in diese Richtung. Trotz der offiziellen Ansage aus Berlin, Steuererhöhungen werde es nicht geben, hielt Beck auch gestern an seiner Position fest.

Obwohl die Wirtschaftslage in Deutschland mies ist und die Weltökonomie lahmt, plant Rot-Grün somit einen Mix aus Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen – eine Aussicht, bei der Dieter Vesper nicht wohl ist. Der Ökonom vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt, dass Eichels „Supersparpaket negative Auswirkungen für die Konjunktur“ haben wird. Die Kürzung von rund vier Prozent der Ausgaben des Bundeshaushalts sei kontraproduktiv, so Vesper. In einer ökonomischen Schwächephase nehme die Bundesregierung zusätzlich Nachfrage vom Markt, was sich nachteilig auf den privaten Konsum und die Tätigkeit der Unternehmen auswirke.

Um der „Spirale nach unten“ zu entkommen, sieht Vesper nur einen Ausweg: eine gemäßigte Aufnahme zusätzlicher Kredite. „Im Zweifel soll Eichel den blauen Brief“, die Verwarnung aus Brüssel wegen eines zu großen Defizits, „in Kauf nehmen“, sagt der Ökonom.