Spüren, wie es ist als Flüchtling

Mit einer Führung unter dem Motto „Fluchtpunkt Berlin“ durch die Bezirke Mitte und Kreuzberg macht der Verein Stattreisen auf die Geschichte und die heutige Situation von Flüchtlingen aufmerksam. Häufig ergeben sich verblüffende Parallelen

Man kommt hier ins Gespräch, andere Führungen sind oft One-Man-Shows“

von TILL BELOW

Das Russische Haus der Wissenschaft und Kultur an der Friedrichstraße ist ein realsozialistischer Klotz aus den frühen 80er-Jahren. Das Foyer verschluckt die Reisegruppe. Man spürt noch die Aura vergangener sowjetrussischer Größe. „Es ist das größte Kulturzentrum der Russischen Föderation, mehrere Initiativen für interkulturellen Austausch und Integration der russischsprachigen Bevölkerung sind hier heute Untermieter“, erzählt Andreas Grimmert. Der junge Mann arbeitet als Führer von Stattreisen e. V., einem gemeinnützigen Bildungsverein, der alternative Stadtführungen organisiert. Über die russische Community hat der ausgebildete Tänzer und Schauspieler einiges zu erzählen. „Zuerst kamen alle, die nach der Oktoberrevolution keinen Platz mehr hatten – Adlige und Flüchtlinge des russischen Bürgerkriegs, aber auch Anhänger der jungen Sowjetrepublik, die versuchten, ihre Landsleute für das sowjetische Projekt zu gewinnen.“ Im Berliner Bezirk „Charlottograd“ konzentrierte sich die Diaspora und der kubistische Maler Marc Chagall berichtete, in den Kellerrestaurants rund um die Motzstraße finde man den größten Teil der zaristischen Heeresführung – als Kellner, Köche und Conférenciers. Das war in den 20er-Jahren. Heute leben etwa 80.000 russische Staatsbürger in Berlin, doch der russischsprachige Bevölkerungsanteil liegt viel höher, denn russlanddeutsche Spätaussiedler erhalten die deutsche Staatsbürgerschaft.

Die Russen sind nur ein Thema des Rundgangs „Fluchtpunkt Berlin“, der von Stattreisen zum heutigen Internationalen Tag des Flüchtlings konzipiert wurde. Am Gendarmenmarkt ein paar Worte zu den Hugenotten und schon geht es weiter durch die Friedrichstadt bis zum Halleschen Tor, immer auf den Spuren von böhmischen, ostdeutschen, albanischen, tamilischen, jüdischen und jugoslawischen Flüchtlingen in Berlin.

Eine sehr gemischte Gruppe ist am U-Bahnhof Hausvogteiplatz gestartet. Rentnerinnen in grauen Staubmänteln, Touristinnen aus Wien und langjährige Stattreisen-Fans sind zur Premiere gekommen. Die Veranstalter scheinen selbst auf die Führung gespannt zu sein und sind gleich zu fünft gekommen – ein halbes Jahr lang haben sie in Archiven recherchiert und Gespräche geführt. Der Schauspieler Andreas Grimmert spricht in lebendigen, persönlichen Bildern. Er rezitiert Adalbert von Chamisso, Bertolt Brecht und möchte, dass man sich vorstellt, „wie es ist, wenn man seit vier Wochen mit einem beladenen Kinderwagen zu Fuß auf der Flucht ist“.

Auch Stadtführer Jodock hat eine Mission. Vor dem Amtssitz der Bundesausländerbeauftragten im Arbeitsministerium an der Wilhelmstraße kommentiert er die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Eine Politik, die häufig „nicht Schutz für Flüchtlinge, sondern Schutz vor Flüchtlingen“ bedeute. Dass Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen und einer strengen Residenzpflicht unterliegen, stößt bei einer älteren Teilnehmerin auf Unglauben und wirft Fragen auf. Kontroverse Diskussionen gehören zum Konzept, erzählt Jodock, der ehemalige Geschichtsstudent, später. „Wir verstehen uns altmodisch-aufklärerisch. Das Thema ‚Festung Europa‘ möchte ich herunterbrechen auf die Ebene dieser Stadt und gerne provoziere ich die Leute auch mal.“ Jodock arbeitet auch bei anderen Stadtführungen – seine Leidenschaft gilt aber den unkonventionellen Touren von Stattreisen. „Man kommt hier mit den Teilnehmern ins Gespräch und wird auch schon mal korrigiert, andere Führungen sind dagegen oft nur eine One-Man-Show.“

Am Bethlehemkirchplatz übernimmt Monika Mews die Reisegruppe. Farbige Pflastersteine zeigen hier den Standort der einstigen Böhmischen Kirche in Berlin. Friedrich Wilhelm I. hatte im 18. Jahrhundert verfolgte böhmische Protestanten aufgenommen und entlang der Wilhelmstraße und in Rixdorf angesiedelt. Bereits damals waren die Machthaber vor allem an Flüchtlingen interessiert, die ihnen nutzten. Der Soldatenkönig wollte Tuchproduzenten für die preußische Armee gewinnen, erklärt Mews. Für diese Leute sei die Kirche errichtet worden, in der noch bis 1829 auf Tschechisch gepredigt wurde. Die Einwanderungspolitik war sehr erfolgreich – als Friedrich Wilhelm I. starb, betrug der Anteil aller Einwanderer 25 Prozent der Berliner Bevölkerung.

Die bunte Skulptur „Houseball“ von Claas Oldenbourg, die den ehemaligen Kirchplatz dominiert, verknüpft Fluchtgeschichten verschiedener Epochen, die sich hier Treffen. Es ist eine Leihgabe der Investoren des Philip-Johnson-Hauses, die selbst Nachfahren von jüdischen Emmigranten sind. Außerdem ist der Platz Teil des ehemaligen Grenzübergangs Friedrichstraße.

Nächste, unvermeidbare Fluchtstation ist der Checkpoint Charlie. Mit geschärftem Blick lassen sich auch hier neue Aspekte entdecken. Ob der Imbissmann gegenüber wohl aus Nord- oder Südvietnam kommt? Am Westberliner Blumengroßmarkt erzählt Jodock von den Arbeitsmöglichkeiten als Kleinstunternehmer. Häufig würden sich Flüchtlinge aus einem Land alle in einer bestimmten Branche konzentrieren – Tamilen arbeiten als Rosenverkäufer und ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Nordvietnam als Zigarettenhändler. Ihre Landsleute, die als Boatpeople nach Westberlin kamen, waren schnell integriert und angesehen, die Nordvietnamesen aus der DDR wurden nach der Wiedervereinigung offiziell zum Problem erklärt. Wieder einmal schließt sich hier der Bogen zwischen Geschichte, Architektur und der Situation von Flüchtlingen heute. Jodock ist selbst überrascht, wie viele Anknüpfungspunkte auf dem kleinen Areal der Führung liegen. „Zuerst waren wir skeptisch, ob man zu dem Thema eine Stadtführung anbieten kann – dann gab es sogar ein Themen-Überangebot“, erzählt er.

Inzwischen stehen wir am Landwehrkanal, und Andreas Grimmert berichtet von den Flüchtlingstrecks, die 1945 im zerstörten Berlin ankamen. Hier am Ufer des Landwehrkanals hätten sie damals Rast gemacht. Nach einem Erlass des sowjetischen Befehlshabers von Juni 1945 durften Flüchtlinge allerdings nur 24 Stunden in Berlin bleiben, dadurch sollte die Überfüllung der Stadt vermieden werden. Viele scherten sich nicht darum und hatten Glück – die Integration gelang hier viel eher als in der westdeutschen Provinz.

Waltraud R., eine 75-jährige Kreuzbergerin, ist von diesem Teil der Tour besonders berührt. Sie sei gekommen, um alte Jugenderinnerungen aufzufrischen. „Ich weiß, wie es sein kann“, sagt sie. Die Bombardierung habe sie in Kreuzberg erlebt, „man hätte nicht gedacht, dass es so große Flammen gibt“, erzählt sie. Später musste sie selbst flüchten – wegen der Russen nach Brandenburg.

An der Kreuzberger Heiligkreuzkirche endet der Rundgang nach drei Stunden. Der Kirchenbau aus der Kaiserzeit, vom Volksmund als Pickelhaube verschmäht, bekam in den 80er-Jahren eine ganz neue Geschichte. Damals wurde hier Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht waren, erstmals Kirchenasyl gewährt. Heute gibt es eine Asylberatungsstelle.

Martin Haase hat die Premiere gut gefallen. „Zu sehen, dass ähnliche Elemente immer wieder auftauchen, diese Zeitsprünge machen die Führung so spannend.“

Die Führung „Fluchtpunkt Berlin“ beginnt heute um 17 Uhr am U-Bahnhof Hausvogteiplatz. www.stattreisen.berlin.de