Europäisches Kaffeekränzchen

Der Konvent der Europäischen Union hat halb Europa zum Gespräch geladen. Dies lenkt ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ab: Eine Verfassung für Europa zu entwickeln

Aus den unzähligen Anregungen kann sich jeder Politiker seine Lieblingstheseherauspicken

Ihr Chef ist ein Rindvieh und verdient trotzdem viel mehr als Sie? Ihre Frau hat Sie rausgeschmissen, und Kirchensteuer würden Sie auch lieber keine bezahlen? Wenn Sie sich aussprechen wollen – kein Problem: Klicken Sie die Website des Konvents an, der Europa reformieren soll (www.europa.eu.int/futurum/forum_convention/index_de.htm). In diesem Forum kann man über alles reden.

Wer es lieber real hat als virtuell, kann sich bei einer Kontaktgruppe anmelden – am 8. Oktober zum Beispiel. Da lädt Konventsmitglied Antonio Vitorino, derzeit Justizkommissar der Union, Initiativgruppen ein, die sich im Bereich Menschenrechte engagieren – irgendwie. Bei dem Treffen kann alles aufs Tapet kommen, was im weitesten Sinn mit der Arbeit des Konvents zu tun hat. Es wäre aber schön, bittet der Kommissar bescheiden in seiner Einladung, wenn bei dieser Gelegenheit auch über die Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention geredet werden könnte.

Die Kernfragen der europäischen Verfassungsdebatte als Randnotiz auf der Tagesordnung – diese Schieflage kommt zustande, weil die Staats- und Regierungschefs Ende letzten Jahres beim Gipfel in Laeken den Konvent als Wundermittel gegen alle Krankheiten der in die Jahre gekommenen Union ersonnen haben. Er soll den Bürgern das Gefühl vermitteln, ihre Sorgen und Erwartungen würden in Brüssel gehört. Er soll aber auch als verfassunggebendes Organ arbeiten und Mitte nächsten Jahres einen übersichtlichen, lesbaren neuen EU-Vertrag vorlegen, mit dessen Hilfe eine Union aus fünfundzwanzig Mitgliedern dirigiert werden kann.

Nach sechs Monaten Generaldebatte muss sich der Konvent für die Zukunft Europas entscheiden: Seine Mitglieder versuchen entweder weiterhin das Unmögliche und bleiben mit der ganzen Zivilgesellschaft gleichzeitig im Gespräch, oder sie konzentrieren sich darauf, einen Verfassungsvertrag zu erarbeiten. Das bisherige Konzept ist zum Scheitern verurteilt.

Denn der Kommunikationsoverkill des Konvents ist schädlich – und das in dreifacher Hinsicht: Er führt dazu, dass die Konventsmitglieder sich verzetteln und sich nicht auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können. Die zum Dialog aufgeforderten Bürger hingegen durchschauen bald, dass das Gesprächsangebot nur ein Trostpflaster ist. Das verstärkt die Überzeugung, dass „die in Brüssel“ doch machen, was sie wollen. Zum Dritten zeigt sich zunehmend die Gefahr, dass der bunte, unstrukturierte Bürgerwille, wie er in solch einem gigantischen Kommunikationsnetzwerk zum Ausdruck kommt, von den Konventionalisten als Selbstbedienungsladen missbraucht wird.

Allein mit dem Fragenkatalog, den die Staats- und Regierungschefs in Laeken formuliert haben, könnte sich eine Expertenrunde monatelang befassen. Doch die Regierungschefs ließen es dabei nicht bewenden. Da ihre Wähler sich zunehmend verdrossen von Brüssel abwenden, soll der Konvent sich nicht nur intern zusammenraufen und möglichst zum Konsens finden, sondern durchlässig sein für Wünsche und Anregungen aus allen Bereichen der so genannten Zivilgesellschaft.

Wer herausfinden möchte, wie das in der Praxis abläuft, hatte dazu vor der Sommerpause reichlich Gelegenheit. Da traf sich zum Beispiel im Juni Präsidiumsmitglied Klaus Hänsch mit Vertretern von 74 Organisationen aus dem sozialen Sektor. So breit wie das Spektrum der Teilnehmer war auch die Palette der Themen: Grundrechtecharta, Recht auf Bildung, bessere Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Recht auf Arbeit, nachhaltige Entwicklung, Stellenwert der Familie, sexuelle Diskriminierung, Rechte von Migranten, Forschungsförderung.

Die Debatte dauerte nicht – wie bei so vielen Teilnehmern und so komplizierten Fragen zu vermuten wäre – mehrere Tage, sondern drei Stunden. Mehr Zeit hätte Hänsch, der als Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament in den Konvent entsandt wurde, auch gar nicht erübrigen können. Denn er leitet die Konvents-Arbeitsgruppe, die Vorschläge zur künftigen Wirtschaftsverfassung der EU machen soll.

Natürlich hat beides – die Forderung vieler Bürger nach einem sozial gerechteren Europa und die technische Frage, wie es verfasst sein soll – eng miteinander zu tun. Um den Bürgerwillen in Institutionen zu gießen, die ihn verwirklichen können, braucht es aber politische Fachleute. Wenn die Zivilgesellschaft kritisiert, die Reformdebatte sei zu technisch, zu unverständlich, zu bürgerfern, dann gefährdet sie damit ihr eigenes Anliegen.

Während zum Beispiel die Arbeitgeberverbände am liebsten alle Sozialstandards per EU-Gesetz verbieten würden, möchte der europäische Dachverband der Gewerkschaften ein einklagbares Recht auf Arbeit und Wohnung in die EU-Verfassung schreiben. Aus den unzähligen Anregungen kann sich jeder Politiker seine Lieblingsthese herauspicken und hat – ein unschlagbares Argument – den Bürgerwillen im Rücken.

Auch Konventspräsident Giscard d’Estaing hat die Zivilgesellschaft als Bundesgenossen entdeckt. Wann immer seine Konventionalisten in der Debatte heiße Eisen anfassen, würgt er ihre Ideen mit dem Argument ab, die Bürger wollten diese technische Debatte über die Neugestaltung der Institutionen gar nicht. Was Giscard inhaltlich will, liegt ziemlich im Nebel. Was er machtpolitisch vorhat, ist glasklar: Er möchte als Autor der ersten EU-Verfassung in die Geschichte eingehen. Und er ist sicher, dass niemals alle Regierungschefs unterschreiben werden, wenn sie dabei zu viele Kröten schlucken müssen.

Der Konvent soll als Wundermittel gegen alle Krankheiten der gealterten Union wirken

Aus Sicht der Bürger ist der Wunsch verständlich, lebensnah zu diskutieren und sich nicht auf juristische Feinheiten einer Verfassungsdebatte einzulassen. Konventspräsident Giscard aber weiß genau, dass der Weg zu einer demokratischeren, bürgernäheren Union über demokratischer verfasste, zu Transparenz verpflichtete Institutionen führt. Die Form prägt in diesem Fall den Inhalt mindestens so stark wie der Inhalt die Form.

Wenn der Franzose dennoch den „Bürgerwillen“ als Trumpf aus dem Ärmel schüttelt, dann kann das nur eines bedeuten: Er will vermeiden, dass der Konvent das wirklich heiße Eisen anfasst – die Machtverteilung zwischen den zwischenstaatlichen Gremien und den Gemeinschaftsinstitutionen.

Sollten die Konventionalisten zulassen, dass ihr Vorsitzender die „Zivilgesellschaft“ als Kronzeugen seiner eigenen politischen Interessen missbraucht, sind sie verloren. Sie haben nur eine einzige Chance, bis zum nächsten Sommer ein Ergebnis abzuliefern, das die Bürger wirklich überzeugt: Sie sollten die Anregungen des Forums mit Respekt und Interesse zur Kenntnis nehmen und sich dann dem wesentlichen Geschäft zuwenden: Der Arbeit an einer logischen und lesbaren EU-Verfassung, die eindeutig Antwort auf die Frage gibt, wer Europa in den kommenden Jahren regieren soll.DANIELA WEINGÄRTNER