„Kein anständiges Imitat“

Der Istanbuler Schriftsteller Orhan Pamuk über die große alte Stadt am Rande Europas und den Zorn, den man verspürt, wenn man ein Teil des Westens werden möchte, es aber nicht schafft

Interview GERO GÜNTHER

taz: Die Stadt Istanbul und die Veränderungen, denen sie unterworfen ist, spielen in vielen Ihrer Bücher eine große Rolle.

Orhan Pamuk: Als ich geboren wurde, hatte die Stadt eine Million Einwohner, heute zehn oder fünfzehn Millionen. Das bedeutet für mich zuallererst, dass viel mehr Menschen, in den gleichen Straßen, auf dem gleichen Pflaster unterwegs sind. Als ich ein Kind war, wohnte ich in Nisantasi, der Gegend, die ich im „Schwarzen Buch“ beschreibe. Wenn ein Auto vorbeifuhr, schrien wir: „Guck mal, ein Auto!“ Heute steht der Verkehr in diesen Vierteln grundsätzlich still vor lauter Autos. Alles ist voller Menschen.

Es gibt also eine Nostalgie nach den alten Zeiten, in denen die Stadt vergleichsweise leer war.

Ich verspüre eine Nostalgie nach meiner Kindheit, weil ich eine schöne Kindheit genossen habe. Oder zumindest habe ich mich entschieden, eine ziemlich schöne Kindheit gehabt zu haben.

Eine privilegierte, wohl behütete Kindheit wohl auch …

Ich hatte Probleme mit meinem Bruder und meiner Familie. Aber das sind Dinge, über die ich vielleicht mal in der Zukunft schreiben werde. Im Großen und Ganzen war es eine schöne, und ja, durchaus auch eine privilegierte Kindheit.

Es ist oft die Rede davon, dass der ursprüngliche Charakter von Istanbul verloren gegangen ist.

Leute, die hier seit langem wohnen, behaupten oft, dass dies und jenes verdorben, unecht und künstlich sei. Das wird dann oft auf den Tourismus geschoben. Ich finde diesen Ansatz ziemlich langweilig. Diese Menschen finden alle Veränderungen seit ihrer Kindheit einfach schrecklich. Meine einzige wirkliche Kritik am neuen Istanbul ist, dass es so überfüllt ist. Besonders an den Wochenenden.

Viele Viertel in Istanbul wurden gerade in den letzten Jahren von Spekulanten und Neureichen in Beschlag genommen.

Ich komme nicht an diese schicken Orte. Da bekommst du ja meistens schlechtes Essen zu überteuerten Preisen. Ich gehe immer in die gleichen zwei Restaurants am Bosporus oder in die eine oder andere Gaststätte in Beyoglu. Orte, wo Intellektuelle hingehen, aber auch ganz einfache, normale Leute. Deshalb bin ich auch von Nisantasi nach Cihangir umgezogen. Es war mir zu hektisch und teuer geworden.

Viele Figuren in Ihren Büchern bringen die Veränderungen Ihrer Umwelt mit der Verdorbenheit der westlichen Zivilisation in Verbindung. Ihr eigener Standpunkt scheint jedoch zu sein, dass die Suche nach einem Urzustand vergeblich ist.

Ja, genau. Das ist mein Punkt. Veränderungen sind unvermeidlich und haben schon immer existiert. Der Wunsch beispielsweise, eine Stadt so zu erhalten, wie man sie einmal in seiner Kindheit wahrgenommen hat, ist verständlich, aber sehr egoistisch und illusorisch. Meine Haltung hat aber auch noch mit etwas anderem zu tun. In den frühen 80er-Jahren gab es hier eine Nostalgiewelle ehemals Linker, die sich darüber beklagten, dass die Zugewanderten, all die armen Schlucker aus Anatolien, ihre wunderbare Stadt zerstören würden. Es war fast eine Art Rassismus: Achtung: Unser verwestlichtes Istanbul wird von einer Invasion aus Anatolien bedroht! Vor diesem Hintergrund wurde eine ganze Menge nostalgischer Literatur geschrieben. Da ging es einerseits um den Mythos der alten Holzhäuser, den Istanbuler Gentleman und andererseits um die vulgären Anatolier, geschmacklose Leute, die türkische Pizza essen und dazu Whisky trinken.

Das westliche Istanbul, das von diesen Autoren verteidigt werden sollte, war doch auch das Ergebnis des Multikulturalismus früherer Zeiten.

Diese Schriftsteller haben verwestlichte Viertel wie Beyoglu nicht als ein Ergebnis der komplexen kulturellen Hybridität der Levante gesehen, sondern als eine Erfindung von Kemal Atatürk. Und sie hatten natürlich insofern Recht, als der Einfluss der Minoritäten unter den Kemalisten systematisch verleugnet wurde. Das kulturelle Leben der Minderheiten durfte nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Wenn jemand auf der Straße Griechisch sprach, hieß es: „Halt! Wir befinden uns in der Türkei, bitte sprechen Sie Türkisch!“

Demnach scheint Istanbul in der ottomanischen Epoche eine sehr viel kosmopolitischere Stadt gewesen zu sein, als nach der Staatsgründung.

Sehr wahr. Es gibt sehr viele historische Fakten, die das belegen. Fast die Hälfte der Bevölkerung bestand aus Christen – es gab Griechen, Armenier, Juden. Sie wurden mehr oder weniger diskret rausgeschmissen oder rausgeekelt. Nicht nur nach dem Unabhängigkeitskrieg, sondern auch in den darauf folgenden 40 Jahren. Die Türkifizierung von Istanbul dauert ja in gewisser Weise bis heute an. Die Griechen gingen nach Griechenland, die Juden nach Israel und die Armenier und Katholiken vor allem in die USA. Es gab rassistische Vorfälle in den 50ern, dann 1962 während der Zypernkrise, und immer wieder. Die internationale Gemeinschaft hat sich darum jedoch nie gekümmert.

Die Türkei scheint zumindest aus der Sicht von Istanbul fast so etwas wie ein Musterbeispiel für die Fiktionalität der Nation zu sein.

Was die Menschen vereint, ist die türkische Sprache. Die türkische Sprache ist in ihrer Geschlossenheit ein Gefängnis und gleichzeitig das Fundament des türkischen Nationalismus. Der moderne türkische Staat ist auf der Einheit der Sprache gegründet. Was für mich problematisch ist, ist nicht so sehr die Frage, ob die Türkei eine Erfindung ist, sondern, dass wir an der Grenze zu Europa leben, aber in einer anderen Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Türkei ist so etwas wie ein eigener Kontinent an der Grenze zu Europa, ein ziemlich unerforschter Kontinent.

Andererseits scheint man, wenn man durch moderne Viertel wie Etiler fährt, doch mitten in Europa zu sein.

In einer sehr hässlichen, künstlichen Nachahmung Europas. Es ist eines der größten Versäumnisse der türkischen Oberschicht, dass sie es nicht mal in ihren extrem privilegierten Enklaven schafft, ein anständiges Imitat Europas zu kreieren. Der Straßenbelag ist schlecht, es ist schmutzig. Wenn Etiler Europa wäre, könnte ich mich dort ja wohl fühlen. Aber das ganze Geld wird verschwendet, um eine vulgäre Maske des Luxus aufzulegen. In manchen arabischen Ländern versucht man, Europa in Shopping Malls und Luxushotels zu imitieren; wir Türken haben gedacht, dass wir entwickelt genug sind, es auch draußen auf den Straßen zu versuchen. Vergeblich!

Trotzdem sind Nobelviertel wie Etiler oder Nisantasi Lichtjahre von Ostanatolien entfernt …

Ja, lassen Sie uns darüber reden. Die Verteilung der Reichtümer in diesem Land gehört zu den ungerechtesten in der ganzen Welt. Und die Hauptaufgabe des türkischen Staates und der Regierung scheint darin zu bestehen, diese Unterschiede angesichts der Bedrohung durch den Fundamentalismus und die Kurdenfrage zu vertuschen. Wirtschaftlich gesehen sind wir eines der ungerechtesten Systeme der Welt. Gegenüber der internationalen Gemeinschaft heißt es dann: Ihr müsst uns unterstützen, sonst fällt die Türkei den Islamisten in die Hände.

„Kar“, Ihr neues Buch, das im Februar in der Türkei erschienen ist, spielt zur Abwechlsung einmal nicht in Istanbul.

„Kar“ ist ein politischer Roman. Ich wollte so etwas nie machen. Ich dachte immer, dass viele der besten literarischen Talente der Türkei, ihre Bücher durch politische Aussagen verdorben haben. Früher wollte ich Thomas Mann oder Marcel Proust sein. Ich wurde nach der Veröffentlichung meiner ersten Romane als Bourgeois beschimpft, als jemand, der sich den sozialen Problemen seines Landes verschließt. Dann, als ich bekannter wurde, begann ich politische Statements abzugeben. Und schließlich wollte ich meinen Namen nicht mehr unter die Petitionen anderer Leute setzen, sondern einen Hardcore-politischen Roman schreiben. Ich fuhr zu diesem Zweck nach Kars, einer Stadt an der russischen Grenze – einst eine der Top-Ten-Städte dieses Landes, heute runtergekommen und entvölkert. Die Hälfte der Bevölkerung hat keine Arbeit, alles ist elend, ärmlich. „Kar“ handelt von zweihundert Jahre alten türkischen Probleme. Problemen wie Fundamentalismus, Modernisierungen, der Ost-West-Konflikt. Es geht um den Zorn, den man verspürt, wenn man ein Teil des Westens werden möchte, es aber nicht schafft, dazuzugehören. Ich wollte über diesen Zorn schreiben.