Tagebuch eines Skandals

Der Arte-Film „Sebnitz – die perfekte Story“ dokumentiert mit einer unkommentierten Bilderkollage das beispiellose Mediendebakel um die vermeintliche Ermordung des „kleinen Joseph“

von HEIKE HAARHOFF

Sebnitz. Badeunfall – Mord – Badeunfall. Der Tod des „kleinen Joseph“, die Medien, der „Rufmord“ an einer Kleinstadt in der Sächsischen Schweiz. Nicht schon wieder! Doch. Der deutsch-französische Fernsehsender Arte hat einen Film gemacht: „Sebnitz – Die perfekte Story“.

Es sei ihnen „nicht um einen medienspezifischen Dokumentarfilm“ gegangen, betonten die Autoren Johann Feindt und Max Thomas Mehr bei der Vorabaufführung. Sondern – nicht zuletzt mit Rücksicht auf das französische Publikum – darum, „den Fall noch einmal zusammenzufassen“. Mit dem Abstand von beinahe zwei Jahren wollten Feindt und Mehr herausfinden, warum die Ungeheuerlichkeit – Neonazis ertränken ein Kind im Freibad und die halbe Stadt schaut zu – für die meisten Menschen bis dahin unmöglich zu glauben, plötzlich in vielen (Journalisten-)Köpfen doch glaubhaft war. Warum so schnell akzeptiert und Restzweifel aus vielen Berichten herausredigiert wurde: Ja, so muss es gewesen sein.

Betrachten wir also den Super-GAU, geschehen in Deutschland im Herbst 2000, unter dem Blickwinkel, den Feindt und Mehr gewählt haben: Im Sommer 1997 ertrinkt ein sechsjähriger Junge, Sohn eines irakisch-deutschen Apothekerpaars, im Freibad von Sebnitz. Ein Badeunfall, sagt die Staatsanwaltschaft und stellt ihre Ermittlungen bald ein. Ein Mord, begangen von einer Horde Neonazis unter den wegschauenden Blicken hunderter Badegäste, behauptet die Mutter, Renate Kantelberg-Abdulla. Deren selbst gesammelten vermeintlichen Beweise werden drei Jahre später, im Herbst 2000, von deutschen Medien von Bild bis taz veröffentlicht – häufig jedoch nicht als ernst zu nehmende Indizien, sondern als unverrückbare Gewissheit: „Neonazis ertränken Kind“ (Bild, 23. 11. 2000), „Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord“ (taz, 24. 11. 2000).

Unkommentierte Szenen

Das Arte-Team, im Herbst 2000 nicht selbst als Berichterstatter vor Ort, hat auf Kollegenschelte und ein Medientribunal verzichtet. Die beiden Autoren reihen O-Töne von Befragten und Filmszenen unterschiedlichster Rundfunkanstalten aneinander, die damals über deutsche Fernsehbildschirme liefen (Kantelberg-Abdulla in ihrer Apotheke, Kantelberg-Abdulla bei Erich Böhme, Kantelberg-Abdulla auf ihrem Weg zum Kanzler) und in ihrer nun komprimierten Form vor allem einen Eindruck vermitteln sollen: zu glatt, zu auswendig gelernt, zu inszeniert. Zu perfekt. Vielleicht zögerten deswegen die meisten Sender, ihr Material zu Dokumentationszwecken zur Verfügung zu stellen.

Schade ist, dass keiner der befragten Journalisten im Nachhinein wirklich seine eigene Rolle reflektiert: Ein Fotograf berichtet von grölenden Glatzen, die durch die Straße der Kantelberg-Abdullas gezogen seien, als er die Familie fotografierte, und ihn darin bestärkt hätten, die Version der Familie zur Wahrheit zu erheben. Ein anderer Journalist erinnert an die medien- und parteiübergreifende Kampagne gegen Rassismus des Sommers 2000. Die habe viele sensibilisiert. So sehr, dass plötzlich alles möglich schien. Und so passte eines zum anderen, fügte sich zum perfekten Bild.

Rufe nach Konsequenzen werden deswegen aber nicht laut. Mit Ausnahme der zweiten Apothekerfamilie aus Sebnitz, deren Tochter des Mordes an Joseph verdächtigt mehrere Tage im Gefängnis war, stellt keiner der Akteure im Film die Frage nach Kontrollmechanismen innerhalb von Redaktionen, nach Medienethik als Pflichtbestandteil von Journalistenausbildung, nach Recherchebedingungen im journalistischen Tagesgeschäft.

Stattdessen scheint es, als hätten sich die Fronten zwei Jahre später verhärtet. Das ist unbefriedigend, aber nicht unbedingt ein Manko des Films, der dies ja lediglich dokumentiert. Sachsens Exministerpräsident Biedenkopf (CDU) bekommt Sendezeit, um erneut zu erwähnen, dass fast alle Journalisten, die aus Sebnitz berichteten, „aus dem Westen kamen“ (mitschwingende Botschaft: denen fiel es leicht, uns aus dem Osten die Pest des kollektiven Rassismus an den Hals zu schreiben).

Der preisgekrönte Regisseur Volker Schlöndorff war vor zwei Jahren wieder aus Sebnitz abgezogen, weil die Kantelberg-Abdullas ihm den Eindruck vermittelten, als schlage ihr Herz mehr für die Teilnahme an Talkshows denn für den von ihm avisierten „seriösen Spielfilm“. Er tritt in dem Arte-Beitrag nun als Kronzeuge für gestörte Psychen auf: „Sie hat eine Persönlichkeitsstruktur, die man hysterisch-neurotisch nennen kann“, behauptet er aus der Erinnerung über Josephs Mutter. Die Arte-Autoren hielten es nicht für nötig, mit Renate Kantelberg-Abdulla während ihrer Recherchen einmal selbst zu sprechen. Sie hätten Kontakt zu ihrem Rechtsanwalt gehabt und den Eindruck gewonnen, „dass es erst was bringt, mit ihr zu reden, wenn sie eine Therapie gemacht hat“, so Max Thomas Mehr.

Die entschädigte Stadt

Wenig Platz blieb daneben für die Einwohner von Sebnitz, die sich mehrheitlich bis heute als Opfer einer rufschädigenden Kampagne sehen und es angemessen finden, dass das Land Sachsen Haushaltsprogramme umwidmete, um der Stadt zehn Millionen Mark „Entschädigung“ zukommen zu lassen; dass die Bild-Zeitung sich entschuldigte; dass Minsterpräsident, Bundespräsident und Kanzler Sebnitz besuchten und dass Sebnitz mit seiner neuen Wetterstation nun jeden Abend im ARD-Wetter erscheint.

Arte hält den Beitrag für so wichtig, das er, anders als die übrigen Filme der neuen Reihe „Ein Tag mit Folgen“, nicht nur im Nachmittags-, sondern als Wiederholung auch im flächendeckend ausgestrahlten Abendprogramm zu sehen sein wird.

Erstausstrahlung: 26. Oktober 18 Uhr, Wiederholungen: 8. November 22.15 Uhr, 9. November 18 Uhr