Über allen Gipfeln ist Totenruhe

Vorhölle der sinnlosen Opfer: Elfriede Jelineks „In den Alpen“ erzählt vom Seilbahnunglück in Kaprun, bei dem vor zwei Jahren 155 Menschen starben. An den Münchner Kammerspielen hat Christoph Marthaler ihre Abrechnung mit alpiner Profitgier als morbides Gebirgspanorama in Szene gesetzt

von SABINE LEUCHT

Die Regieanweisung könnte bei Anna Viebrock abgeschrieben sein: „Die Talstation einer Seilbahn. Ein sehr hoher, holzgetäfelter Raum, eigentlich ein großes Wohnzimmer, ein Salon, es soll nichts an der Einrichtung an Wintersport oder auch nur Technik erinnern, es soll eher alt und verstaubt wirken, also eher Hirschgeweihe an den Wänden, Bilder etc.“ Nichts davon auf der Bühne der Münchner Kammerspiele: Nur die blässlich Großgemusterte an den Wänden, eine zartkotzgelbe Kantinenzeile links und eine Spielautomatenecke hinten rechts, wo Martin Schütz an seiner Klangdecke häkelt. Mittendrin dann wieder einer dieser scheinbaren Viebrock-Ausgänge: Die schwarzbraun lackierte Tür zur Gletscherbahn – dem großen Schmelzofen, in dem die Menschen „mitsamt ihrer Schmelzkäsekleidung durch den Boden hindurch getropft sind und die Schienen mit ihrer Asche belegt haben“.

Ein Hirschgeweih? Das wäre fast Gesundheit satt in dieser Vorhölle der sinnlosen Opfer, der Christoph Marthaler ein erstes Gesicht zu geben versuchte. „In den Alpen“ hat Elfriede Jelinek ihre Abrechnung mit dem Seilbahnunglück in Kaprun überschrieben, bei dem vor zwei Jahren 155 Menschen ums Leben kamen, überwiegend Jugendliche. Opfer von Profitgier und Dummheit, sagt Jelinek. Und an deren Zusammenwirken bei der Ausbeutung der Berge, an schneidigen Sportlerbiografien und der Brennqualität von Körpern hat sich der ganze erste Teil ihres Textes besoffen. Dagegen haben es die üblichen Untoten in Marthalers Bühnenuniversum schwer, ihre Leichtigkeit noch als gewichtig zu behaupten. Und man erkennt die Toten daran, dass ein Handgelenk tanzt wie eine fremdartig hüpfende Schlange oder einer an seiner Haut zupft, als müsste er einen Salatkopf verlesen. Einmal stürmen die toten „Kinder“ mit klappernden Skistiefeln und Tabletts die Kantine und kommen doch unversorgt zurück – den essenden Helfer, Leichensack- und Gliederzähler ernst umzingelnd. Mit Futterneid fühlt man sich fast wieder alife.

Ohne das Eigengewicht der Szene, ohne wechselnde Sprecher für die von Satz zu Satz Sinn und Richtung wechselnden Monologe wäre das Spiel gleich vom Start weg verloren. Doch auch der traurig-behände Traumtanz von Marthalers Fundstückmenschen taugt nicht wirklich als roter Faden, sondern wirkt ein wenig wie das Ausweichmanöver vor dem Feind, dem der Regisseur zum Schlussapplaus sanft die Wange tätschelt. Wären da nicht die Einzelleistungen: Christa Berndl als altersgeile Schneetouristin schmettert ihren Text mit der implodierenden Verve einer (Pisten-)Diva, macht aus Jelineks Wust von Anklage und oberflächenschillerndem Sprachspiel kurz und knapp ihr Ding: glänzendes Schauspielertheater, hellwach eingestreut ins Panorama des letzten Schlafs. Doch auch ein Triumph des Rollenspiels, was denkwürdig ist für einen Marthaler-Abend. Und denkwürdiger vielleicht noch für eine Uraufführung der „Anti-dramatikerin“ Jelinek, die die Zunft derzeit so wild umschlingt. So hat sie im Sommer nach dem Berliner Theaterpreis noch den Mülheimer Dramatikerpreis erhalten, und schon in zwei Wochen steht die Uraufführung ihrer „Prinzessinnendramen I–III“ am Hamburger Schauspielhaus an, die gleich darauf beim Steirischen Herbst in Graz noch einmal überprüft werden.

Und doch wiederholt sich die Sache mit dem Rollenspiel auch im ungleich lebendigeren zweiten Teil, der das Glück hat, einen dramatischen Gegenpol zu besitzen zur Opfer-Helfer-Schadensstatistik von Teil 1. Stephan Bissmeier spricht einen Teil von Paul Celans berühmtem „Gespräch im Gebirg“. Er ist der Jud, der mit der Natur nicht eins ist; der „Bewohner der Ebene“, der Intellektuelle und Ausgestoßene, der an den Kammerspielen im grauen Anzug aus dem Unglücksschacht spaziert und den Toten artig die Hand gibt.

Bissmeier, der galante Knödler, der das Neben-sich-Stehen zur Perfektion treiben kann, trifft in Gestalt von André Jung auf einen, dessen majestätisch-sonore Stimme allein sofort vergessen macht, dass er ein peinliches Nachthemd trägt. Jung ist der (faschistoide) Bergfex, der noch als Toter voll im Saft steht, weil er die „Natur“ geschlossen hinter sich weiß. Jung ist auch Schauspieler des Jahres, was Bissmeier fast hätte werden können. Und weil ihr böses Glanzduell in eine Inszenierung des Theaterleiters des Jahres eingebettet ist, kann man bei dieser Koproduktion von Züricher Schauspielhaus und Münchner Kammerspielen zu Recht von einem Gipfeltreffen sprechen. Noch liegt zwar Marthaler nach seinem (schon halb wieder bereuten) Rausschmiss mit dem städtischen Geldsäckel im Streit. Doch der Kampf um die Kunst geht weiter.