Brüssel, nicht Wien

Christentum, Aufklärung und das kollektive Gedächtnis – die Argumente gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union werden immer absurder

Wer die Türken am liebsten in der Türkei sieht, sollte sich für ihre EU-Mitgliedschaft einsetzen

Das Thema Türkei gewinnt innen- wie außenpolitisch an Brisanz: Die „unzuverlässigen“ türkischen Politiker erfüllen doch tatsächlich jahrzehntealte Forderungen Europas. Menschenrechte und Minderheitenschutz sind auch am Bosporus keine Fremdwörter mehr. Die Europabegeisterung der Türken setzt die Europäische Union unter Druck: Welche neuen Argumente können jetzt noch grundsätzlich gegen eine Integration der Türkei in die EU herhalten? Keine. Deswegen müssen alte, noch so absurde Argumente herhalten.

Ein islamischer Staat sei nicht in das christliche Europa integrierbar heißt es – meistens, aber nicht nur – bei den Konservativen. Das setzte voraus, dass Säkularisierung in Europa noch nicht stattgefunden hat. Die Türkei auf jeden Fall ist ein säkulärer und kein islamischer Staat. In manchen Bereichen ist sie säkularer als manches EU-Land. Wenn die Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft ihre Ablehnung bekunden, sprechen sie also nicht vom Staat Türkei, sondern von den muslimischen Türken. Diese passten angeblich nicht nach Europa. Doch was ist dann mit den Muslimen, die als Franzosen, Briten oder Deutsche schon längst in Europa als Europäer leben? In Deutschland sind es drei Millionen Menschen. Sind nur Christen Europäer? Wer die Türkei wegen des Glaubens seiner Menschen ablehnt, bestreitet letztendlich die gleichberechtigte Zugehörigkeit aller Nichtchristen zu unserer Gesellschaft. Ein gefährlicher Gedanke.

Prinzipielle Türkeikritiker führen immer wieder an, das christliche Europa habe die gemeinsame Erfahrung der Aufklärung gemacht, die der Türkei fehle. Doch mit der Aufklärung war es etwa im katholischen Süden oder orthodoxen Südosten Europas auch nicht weit her. Zudem: Was hier die Aufklärung war, waren in der Türkei die Reformen Kemal Atatürks, ein Prozess, der immerhin schon seit acht Jahrzehnten anhält. Außerdem: Die Anerkennung der Naturgesetze und der Sieg der Vernunft hat uns Deutsche nicht davon abgehalten, noch vor wenigen Jahrzehnten Millionen Menschen zu ermorden. Die Aufklärung hat uns also keine Garantie für vernünftiges Verhalten gegeben. Sie hat uns erst recht nicht zu besseren Menschen gemacht. Das Diktat der Vernunft, Kern der Aufklärung, verpflichtet zu rationellem Handeln, nicht zum Schüren irrationaler Ängste. Das Ringen um Vernunft ist eine Aufgabe, die sich zu jeder Zeit aufs Neue stellt. Die Vernunft ist Grundlage des zivilisierten Zusammenlebens, nicht der Koran, nicht das alte Testament und nicht die Thora.

Zuweilen ist zu lesen, im kollektiven Gedächtnis Europas seien die Türkenkriege noch immer präsent und stellten eine emotionale Barriere zwischen den Nachfahren der Wienbelagerer und der Wienverteidiger dar. Solche Ideen lasen wir vor wenigen Wochen aus der Feder des Historikers Hans-Ulrich Wehler, ausgerechnet hier in der taz. Das Osmanische Reich und Europa wurden aber zu keiner Zeit als Gegensatz begriffen. Die Türken waren als Teil des europäischen Machtsystems stets Alliierter und Feind zugleich: Im 16. Jahrhundert mit den Franzosen gegen die Habsburger, im 17. Jahrhundert mit den Schweden gegen die Russen, im 19. mit Franzosen und Briten wieder gegen die Russen und im 20. Jahrhundert mit den Deutschen gegen den Rest der Welt. Abgesehen davon – wenn es schon so etwas wie ein kollektives Gedächtnis geben sollte, würde es sich nicht eher an Hitler und Stalingrad als an Kara Mustafa und Wien erinnern? Gerade weil die letzten Jahrhunderte von Krieg und Vertreibung geprägt waren, muss die Vereinigung Europas vorangetrieben werden. Die Kriege der Vergangenheit trennen nicht, sie verpflichten. Ohne die europäische Einigung wäre die deutsch-polnische oder deutsch-französische Versöhnung so nicht denkbar gewesen. Auch die griechisch-türkische Annäherung steht unter dem guten Stern der türkischen EU-Ambitionen.

Die türkische Gemeinde in der Bundesrepublik nennt Wehler das „Türkenproblem“ und meint, die „muslimische Diaspora“ sei im Prinzip nicht integrierbar. Meint er Integration oder Assimilation? Hier ist nicht nur Ignoranz am Werk. Hinter Wehlers Worten steht das Bekenntnis, Deutschland gehöre den christlichen Deutschen und sonst niemandem. Vor einigen Jahrzehnten wurde schon einmal eine Religionsgemeinschaft zum Problem erklärt, das einer „Lösung“ bedurfte. Professor Wehler gehört einer Generation an, die ihre Worte besonders sensibel wählen sollte.

Auch ein weiteres Argument gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union arbeitet mit den Ängsten der Bevölkerung: Es drohe eine Flut türkischer Immigranten. Weder Spanier und Portugiesen noch Griechen wanderten nach dem Beitritt ihrer Länder in die EG massenhaft in andere Mitgliedsländer aus. Auch damals gab es Kassandrarufe, die genau das prophezeiten.

Die gleichen Argumentationsmuster gab es gegen die Aufhebung des Visumzwanges bei den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern. Haben Millionen Polen, Ungarn und Tschechen seither Deutschland überflutet? Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU hat die Menschen dieser Länder in der Heimat gehalten. Es ist die Hoffnungslosigkeit, die die Menschen aus dem Land treibt. So wird ein Schuh daraus: Wer die Türken am liebsten in der Türkei sieht, sollte sich am stärksten für die EU-Mitgliedschaft der Türkei einsetzen. Zu glauben, man könne die Türkei und die Türken aus der EU halten, ist naiv. Das Wasser findet immer seinen Weg – und eine Festung Europa kann, wenn überhaupt, nur unter Aufgabe elementarer Freiheiten realisiert werden. Wollen wir wirklich einen neuen eisernen Vorhang in Europa errichten, diesmal unter dem Verdikt eines fragwürdigen Kulturverständnisses? Beim Thema Türkei geht es nicht einfach um „drinnen“ oder „draußen“. Es geht um unser Selbstverständnis als Europäer und Demokraten.

Die Türkei hat auf dem Weg nach Europa noch viele Hausaufgaben zu erledigen. Der Schutz der Menschenrechte, die gleichberechtigte Teilhabe von Minderheiten an Staat und Gesellschaft, die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft sind die wichtigsten Stichworte. Aber nach den jüngsten Reformen in Ankara können wir optimistisch sein, dass die türkische Politik ihr Wort halten wird. Nun wird es an der Zeit, dass Europa das Gleiche tut.

Die Türken waren als Teil des europäischen Machtsystems stets Alliierter und Feind zugleich

Jene, die stets auf das römisch-christliche Fundament Europas verweisen, wissen: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten. Dies war einer der wichtigsten Rechtsgrundsätze sowohl in Rom als auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Verträge sind einzuhalten – von beiden Seiten.

MEHMET DAIMAGÜLER, VURAL ÖGER