Mehr Lesen auf Pump

Die Situation der Bibliotheken ist prekär: Die Nachfrage steigt, das Angebot stagniert. In Mitte hat die Philipp-Schaeffer-Bibliothek trotz Haushaltssperre einen Weg aus dem Dilemma gefunden

von SUSANNE LANG

Wolfgang Petry ist ein besonders schwerer Fall. „Da haben wir eine CD“, sagt die Bibliothekarin hinter dem Auskunftsschalter. „Nein, nein, das muss ein Buch sein“, sagt die ältere Dame vor dem Schalter. „Meine Enkelin möchte ein Buch.“ Die Bibliothekarin lächelt und tippt den Namen noch mal in ihren Computer. Beratung braucht ihre Zeit, von Hektik spürt man an diesem Freitag vor den Herbstferien in der Philipp-Schaeffer Bibliothek kaum etwas. Obwohl die Schlange vor Rückgabe- und Ausleihschalter bereits bis zur Eingangstür reicht. „Heute ist ein Ausnahmetag“, meint Ingrid Reintjes, stellvertretende Leiterin der Bibliothek. Viele wollen noch vor den Ferien Bücher, CDs oder Videos zurückbringen. Aber auch an normalen Tagen gehört die Schaeffer-Bibliothek in Mitte zu den gut besuchten Einrichtungen. „Wir haben rund eine Viertel Million Besucher pro Jahr“, sagt Reintjes und lächelt. Sie ist ein bisschen stolz darauf, dass ihr Haus dasjenige mit den höchsten Ausleihen im Bezirk ist. 540.000 Medien entleihen die Kunden pro Jahr. In ganz Berlin waren es 2001 rund 16 Millionen bei einem Bestand von insgesamt 5,2 Millionen Medien in allen Bibliotheken.

Die Nachfrage für Bücher und andere Medien ist also nach wie vor groß, nicht nur ungeachtet aller Pisa-Unkenrufe, sondern auch allen Sparmaßnahmen zum Trotz. Zwar ist die Zahl der entliehenen Medien von etwa 27 Millionen im Jahr 1996 auf 16 Millionen gesunken. Die Besucherzahl von durchschnittlich 1.000 Kunden pro Tag je Bibliothek spiegelt jedoch die Nachfrage. „Die gesunkenen Ausleihzahlen hängen mit einem schwindenden Angebot zusammen“, erklärt Jörg Arndt, Leiter des Amtes für Bibliotheken und Kultur in Mitte. „Wegen der Kürzung des Medienetats können wir weniger nachkaufen.“

Die öffentlichen Bibliotheken Berlins unterliegen der Haushaltsperre. Über 46 Prozent weniger Gelder als noch 1996 konnten die Häuser in den Bezirken im letzten Jahr verfügen. Das bedeutet 2,5 Millionen Euro pro Jahr für die Bezirke, das bedeutet wenig Geld für wichtige Investitionen wie vor allem Neuanschaffungen, aber auch für Personal und Serviceangebote. „Wir leisten zwar die Öffnungszeiten mit unserem Personal“, erklärt Stefan Rogge, Leiter der Schaeffer-Bibliothek, „bei der Beratung wird es schon heikel.“ Serviceleistungen werden jedoch immer wichtiger. Nicht nur in puncto Erreichbarkeit, wie sie die Schaeffer-Bibliothek in Form einer Kundenhotline ermöglicht, sondern auch im Umgang mit modernen Medien. Beispiel Datenbanken: Das Arbeiten mit dem Munzinger-Archiv erfordere im Gegensatz zur Dudenschülerhilfe Beratung, so Rogge.

Das Angebot von Datenbanken ist auch ein gutes Beispiel für ein grundsätzliches Problem in der Berliner Bibliothekslandschaft. Jeder Bezirk verfügt über seine Bibliotheken eigenverantwortlich, mit eigenem Etat und eigenen Schwerpunkten. Dazu kommen die beiden Häuser der Zentral- und Landesbibliothek (ZLB), die auf Landesebene wiederum selbstverantwortlich arbeiten. Die Schaeffer-Bibliothek hat sich spezialisiert auf elektronische Publikationen und audiovisuelle Medien. Auf Grund der Haushaltssperre müsse man sich zweimal überlegen, ob man in zahlungspflichtige Angebote wie das elektronische Archiv investiere, so Rogge. „Andererseits müssen Bibliotheken im Sinne des Rechts auf einen freien Zugang zu Informationen auch Wissen in nicht gedruckter Form zur Verfügung stellen.“

Das Modell in Mitte könnte angesichts des zunehmenden Kostendrucks Vorbild sein für eine gesamtstädtische Lösung. Nicht nur im Hinblick auf Aktualität, die seit August durch ein Abonnement der Spiegel-Bestsellerliste gewährleistet ist. Die Bibliothek ist in zwei weiteren Punkten progressiv: Zum einen arbeitet sie mit modernen Vermarktungs- und Fundraisingformen. Das Haus kooperiert mit Verlagen und Wirtschaftsunternehmen. Diesen stellt die Bibliothek regelmäßig Teile der Fläche für Ausstellungen und Präsentationen zur Verfügung. Ein zweites Exemplar der gezeigten Bücher kann unmittelbar ausgeliehen werden. „Weg von der Jammerkultur, hin zur Unternehmenskultur“, laute die Devise, sagt Reintjes und schränkt gleichzeitig ein: „Sponsoring sollte den Staat aber nicht entlasten, Bildungsmaßnahmen zu finanzieren.“

Zum anderen arbeitet die Schaeffer-Bibliothek eng mit der Schwesterbibliothek in der Luisenstraße zusammen. Die Häuser haben sich ergänzende Schwerpunkte. „Wir sollten nicht versuchen, überall viele Billigbibliotheken zu führen, sondern nur wenige große, dafür aber gut ausgestattete“, so Rogge. Dass eine Grundversorgung dennoch garantiert ist, ermöglicht der Verbund Öffentlicher Bibliotheken Berlins (VÖBB). Mit einem Benutzerkonto und einem Ausweis kann man in ganz Berlin Bücher bestellen, ausleihen und auf Wunsch sogar nach Hause liefern lassen.

So wie im Fall Wolfgang Petry. Es gibt tatsächlich ein Buch. Allerdings in Tempelhof, wie die Bibliothekarin der älteren Dame nach ihrer Recherche mitteilt. „Das können Sie jederzeit hier bestellen“, sagt die Bibliothekarin. Die Dame nickt, lächelt und bedankt sich: „Da haben Sie mir sehr geholfen.“ Die Bibliothekarin lächelt freundlich zurück. Kundenservice-Selbstverständlichkeit. Dann kommt der nächste schwere Fall in der Schlange.