Über jeden Verdacht erhaben

Nach heutigem Politikverständnis wäre der langjährige FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick für den Posten ziemlich ungeeignet: Er war integer, er war uneitel, und er war wenig telegen. Im Alter von 81 Jahren ist er gestorben

BERLIN taz ■ Was würde in den heutigen Zeiten aus einem Mann wie Wolfgang Mischnik, der im Alter von 81 Jahren nach schwerer Krankheit starb? Schwer zu sagen – aber wohl kaum der dienstälteste Fraktionsvorsitzende in der Geschichte der Bundesrepublik. Der FDP-Politiker vereinigte Eigenschaften auf sich, die ihn dem geltenden Politikverständnis zufolge als ziemlich ungeeignet für einen derartigen Posten erscheinen ließen: Er war uneitel, er war wenig telegen, und er war ein schlechter Redner.

Trotzdem ist es ihm gelungen, im Laufe von 23 langen Jahren – von 1968 bis 1991 – zur Inkarnation eines Fraktionsvorsitzenden zu werden. Dass er von 1961 bis 1963 auch einmal Minister gewesen ist, daran erinnert sich heute kaum noch jemand: Im letzten Kabinett von Konrad Adenauer war Mischnick für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte zuständig. Seine politische Bedeutung aber gewann er erst später, und zwar in einem Amt, das sich nicht in erster Linie aus der Macht eines Apparates heraus speist, sondern aus der Persönlichkeit seines Trägers.

Wolfgang Mischnik brachte nämlich auch Voraussetzungen mit, die – zumindest damals – in der politischen Landschaft einen hohen Stellenwert besaßen. So ist seine persönliche Integrität nicht einmal von seinen politischen Gegnern jemals bestritten worden. Was immer seiner Partei im Zusammenhang mit Filz und unappetitlichen Verflechtungen mit der Wirtschaft nachgesagt werden konnte: Der Fraktionsvorsitzende war über jeden Verdacht erhaben.

Mischnick war bekannt als einer, dem die Sache stets wichtiger war als individuelle Befindlichkeiten. Am vielleicht eindringlichsten zeigte sich das in seinem Verhältnis zum langjährigen SPD-Granden Herbert Wehner. Obwohl dieser sich für ein Mehrheitswahlrecht eingesetzt hatte – was den parlamentarischen Tod der FDP bedeutet hätte – hat Mischnick niemals gezögert, Wehner als zuverlässigen, ehrlichen Verhandlungspartner zu betrachten. Und zwar bereits zu einem Zeitpunkt, als viele noch hofften, den sozialdemokratischen Fraktionschef mit dem schlichten Hinweis auf dessen kommunistische Vergangenheit dauerhaft diskreditieren zu können.

Wolfgang Mischnik hat seine Partei mit in die sozialliberale Koalition geführt. Beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt stand er als einer der wesentlichsten Garanten für den Fortbestand des Bündnisses – und war dennoch zehn Jahre später, 1982, eine der tragenden Säulen des Koalitionswechsels der Liberalen hin zur Union. Wäre seine individuelle Redlichkeit weniger unumstritten gewesen: Dieser Kurswechsel wäre ihm wohl kaum verziehen worden. So aber konnte Mischnick – in einem sehr ernsthaften und gar nicht spaßigen Sinne – zu einem Vorläufer der heutigen Position der FDP jenseits aller eindeutigen Koalitionsaussagen werden. Erleichtert wurde ihm das durch die Tatsache, dass er niemals eindeutig einem Flügel der Partei zugerechnet werden konnte. Er sah seine Aufgabe darin, zu integrieren. Nicht darin, zu polarisieren.

Die deutsche Einheit war dem gebürtigen Dresdner ein Herzensanliegen. Ob er geglaubt hat, sie noch zu erleben, sei dahingestellt. Sicherlich aber hat er die – innenpolitisch lange heftig umstrittene – Vertragspolitik mit der Sowjetunion und der DDR immer als Politik für Gesamtdeutschland verstanden. Der Fall der Mauer war für ihn Grund zu tiefer, persönlicher Freude. Der Tod von Wolfgang Mischnick bedeutet auch das Ende einer Ära. Das wird oft so gesagt und trifft doch nur selten zu. In seinem Falle trifft es zu. BETTINA GAUS