„Wie ein Engel hat er da gelegen“

Das Landgericht verhandelt gegen eine Mutter aus Findorff, die ihren autistischen Sohn getötet hat – aus Liebe

Die Atmosphäre ist beklemmend im Großen Schwurgerichtssaal des Bremer Landgerichts: Christel N. aus Findorff ist angeklagt, eine Mörderin zu sein: Sie hat ihren eigenen Sohn umgebracht, den sie so sehr liebte. „Sie werden angeklagt, Ihrem von Geburt an behinderten Sohn in Tötungsabsicht Schlaftabletten gegeben und, als er nicht starb, ihm weitere Medikamente eingeflößt zu haben“, verliest die Staatsanwältin nüchtern die Anklageschrift. „Die Tat wird erstmal eingeräumt, sagt der Verteidiger.

Der Vorsitzende Richter Harald Schmacke leitet die Verhandlung straff, aber sehr einfühlsam. Die Angeklagte, die apathisch und kalkweiß da sitzt, lässt er von einer Psychologin befragen. Christel N. heiratet mit 19, erleidet eine Fehlgeburt, nach einem Jahr folgt die Scheidung. N. lernt wieder einen Mann kennen, auch diese Ehe geht schief. Christel N. ist alleinerziehende Mutter: Allein mit Stephan, 1967 geboren, und mit dem sieben Jahre jüngeren Christian.

Mit Stephan rennt sie von Arzt zu Arzt, bis ihr jemand sagt, dass ihr Sohn Autist sei. „Er verhielt sich wie im Glashaus, hat keinen an sich rangelassen“, sagt die Mutter. Mit neun Jahren fängt er an zu sprechen – im Telegrammstil. Andere Krankheiten kommen noch hinzu: Der Junge leidet unter Stoffwechselstörungen, Migräne und Bulimie. Als sie Nachtschichten im Altersheim übernimmt, gibt Christel N. den Sohn in ein Heim: „Das war eine Katastrophe für ihn“, sagt sie heute. Als sie den Verdacht hat, dass Stephan dort missbraucht wird, holt sie ihn wieder nach Hause.

Sieben Jahre umsorgt Christel N. ihn jetzt, ohne einen Tag Urlaub. Galle und Schilddrüse bereiten ihr Probleme, Schlaflosigkeit kommt dazu. Die Mutter hat Angst, „dass sie Stephan wieder in ein Heim stecken – das wäre für ihn der Untergang gewesen“. Langsam reift der Entschluss, gemeinsam mit Stephan zu sterben: Im April 2002 verabreicht sie dem Sohn jede Menge Tabletten, badet ihn, legt ihn ins Bett und spielt ihm sein geliebtes „Biene-Maja-Lied“ vor. Christel N. streichelt Stephan in den Tod. Als sie keinen Puls mehr fühlt, bahrt sie ihn auf und legt dem Sohn eine Rose in die gefalteten Hände: „Wie ein Engel hat er dagelegen“, erinnert sie sich.

Christel N. macht sich, während Stephan stirbt, Notizen: „Es gibt nichts Schöneres, als wenn so ein behindertes Kind nicht mehr leiden muss.“ Es sei furchtbar, dreißig Jahre lang Elend vor Augen zu haben und nicht helfen zu können. Sie schreibt Abschiedsbriefe an zwei Freundinnen, auch sie haben autistische Kinder. Die Frauen sagen aus, Stephans Pflege sei „perfekt“ gewesen, die Mutter habe „wirklich alles“ für ihn getan. Schwer sei es, geeignete Betreuung für einen Autisten zu bekommen. Familiären Rückhalt scheint Christel N. dabei nie gehabt zu haben. „Außer zu mir hatte sie keinen Kontakt zu anderen Familienmitgliedern“, sagt Sohn Christian. Nie habe die Mutter ihren Gefühlen freien Lauf gelassen, nach außen habe sie stets die Starke gemimt. Bis zu dem Tag, an dem er sie neben Stephans Leiche antraf, ihr die vorbereiteten Rasierklingen wegnahm und mit ihr zur Polizei ging: „Ich habe was ganz Schlimmes gemacht“, gab sie dort zu Protokoll, „ich habe meinen kranken Sohn erlöst“.

D. Schalz / M. Jox

Fortsetzung morgen um 10 Uhr