Brötchen kneten wie im Schlaf

Mit ihrem Tanzensemble „Nico and the Navigators“ sucht Nicola Hümpel nach Körpersprachen für die Dingwelt. Jetzt ist „Familienrat“ in den Sophiensälen zu sehen

Eine Frau ist verliebt. Sie fühlt sich so leer wie der Bauch ihrer großen, goldenen Handtasche. Wie das Maul eines Haifisches klappt sie den Verschluss auf und zu. Furchtsam sackt der von ihr Geliebte neben ihr zusammen, als wäre sie persönlich der böse Wolf aus dem Märchen von Rotkäppchen.

Ein Mann ist verliebt. Der Einfachheit halber in ein Schuhregal, das sich seinen Bedürfnissen des Anlehnens, Fallenlassens und der Überschaubarkeit in Perfektion ergibt, die keine Frau aufbringen könnte. Hingebungsvoll tanzt er mit dem Möbel.

Die Dinge verstehen den Menschen vielleicht doch besser als er sich selbst – das glaubt man nach einiger Zeit, die man der Theatergruppe „Nico and the Navigators“ bei ihrem Stück „Familienrat“ zugesehen hat. Im Märchen weiß man, dass die Dinge im Bündnis mit geheimen Mächten stehen und der Umgang mit ihnen oft eine Bewährungsprobe meint. Im Alltag hat man das meist vergessen. Deshalb arbeitet die Regisseurin Nicola Hümpel seit fünf Jahren mit ihrem Ensemble daran, die verschütteten Bedeutungen der Dinge freizulegen. Brötchen zum Beispiel: Sieben Personen essen trockene Brötchen. Da ist die energische, patente Frau im Regenmantel, die ihr Brötchen mit ruckendem Kopf und den Zähnen zerrupft wie ein Raubvogel, der über seiner Beute hockt. Da ist die Kleine, die von allen geliebt werden will: Quer steckt sie sich die Schrippe in den Mund, um die Sache möglichst effektiv hinter sich zu bringen und erstickt dann fast daran. Auch welcher Mann gerade die meisten Punkte gemacht hat, erkennt man an der Art, wie er sein Brötchen knetet, rollt und wie ein Mikrofon in der Hand führt. Freud lauert in jedem Detail, und die Requisiten werden zu symbolischen Verrätern ihrer Nutzer.

Die Gruppe, die mit dem Stück „Familienrat“ ihre fünfte Produktion in den Sophiensälen herausgebracht hat, zelebriert diesen Slapstick mit genüsslicher Schläfrigkeit. Die Komik ist gebremst, der Witz in Watte gepackt. Schon die Kostüme, von Nicola Hümpel ausgesucht, pflegen den diskreten Anachronismus, eine stilsichere Verweigerung der modischen Zuordnung. Ihre Funktion liegt viel mehr im Rückzug und im Verstecken, zu dem das Bühnenbild von Oliver Proske mit vielen Klappen, Türen und Toren jede Menge Gelegenheit bietet.

Doch der liebevollen und skurrilen Charakterisierung zum Trotz kommt dieses Anti-Design-Theater im „Familienrat“ nicht recht vom Fleck. Es ist zu verträumt und ohne rechten Biss. Zwischen den ritualisierten Begegnungen fehlt die Spannung. Der Bilderreigen bleibt additiv, und weil die Langsamkeit an Marthaler und das Familien-Setting an Sasha Waltz’ „Allee der Kosmonauten“ erinnert, wirkt das Ganze leicht epigonal. Das ist schade, denn bisher konnten „Nico and the Navigators“ durch ihren besonderen Witz eine eigene Fangemeinde gewinnen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Der Familienrat“, 8.–13., 17.–19. Oktober, 21 Uhr, in den Sophiensälen