Der kalte Tonfall des Bösen

Der mexikanische Schriftsteller Mario Bellatin widmet sich in „Der blinde Dichter“ einer geheimnisvollen, blutrünstigen Bruderschaft

Über Mario Bellatin heißt es manchmal, er sei Mexikaner und wohne in Mexiko-Stadt. Manchmal auch, er sei Peruaner und habe sich in Mexiko-Stadt angesiedelt. Die jüngste Information lautet: Er sei „einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Lateinamerikas“, außerdem Mexikaner, und er habe in Peru sowie auf Kuba gelebt.

Ähnlich unverbindlich geht es in Bellatins schmalem Band „Der blinde Dichter“ zu. Wie in seinem anderen auf Deutsch erschienenen Buch, „Der Schönheitssalon“, spart sich der Autor fast alles, was eine Anbindung an ein unmittelbares Hier und Heute erzeugte, was den Figuren Kontur und Individualität verliehe, was ihnen einen Namen und einen Ort gäbe. Das muss nichts Schlimmes sein, im Gegenteil. Es kann, wo überzeugend umgesetzt, zu einer Ebene von Fiktion führen, in der die Luft des Realismus dünn, die Aussicht dafür um so besser wird.

In „Der Schönheitssalon“ war das der Fall: Es war dies die Geschichte von einem Schönheitssalon, der zum Hospiz wurde, und von dessen Inhaber, der an derselben Krankheit litt wie seine Schützlinge. Die Geschichte einer Epidemie und des Todes, in der Fische und Axolotl, Tiere aus der Vorzeit, Residuen archaischer Tage, eine große Rolle spielten. Dass sich der Tonfall abkapselte vom Gewohnten, dass die Markierungen sich verrätselten, stellte eine interessante Verfremdung her. Das Wort Aids musste kein einziges Mal fallen, und dass es das nicht tat, bewahrte das Buch davor, sich in Zeit- oder Szenenkolorit zu verlieren.

Anders in „Der blinde Dichter“. Hier geht es um eine Bruderschaft, deren Anführer, der titelgebende Dichter, im zweiten der sieben Kapitel ermordet wird, von den eigenen Leuten, die sich fortan damit beschäftigen, einander Gewalt anzutun und das selbst auferlegte Gebot des Zölibats zu umgehen, indem sie es mit den minderjährigen Schutzbefohlenen tun. Bellatin schafft einen hortus conclusus nach dem nächsten, Heime, Anstalten, Krankenhäuser, Entzugskliniken, er sperrt ein, wo und wen er kann, und kaum eine Figur entgeht einem blutigen Ende.

Damit es nicht zu eindimensional wird, verdreht Bellatin die Chronologie. Man bewegt sich im Buch wie in einem Film, dessen Vorführer die Spulen vertauscht hat: Eine Figur mag tot sein, aber sie taucht wieder auf, vielleicht wegen eines Zeitsprungs, vielleicht, weil ein Text im Text referiert wird, das „Kleine Heft der schwer zu erklärenden Dinge“ etwa oder das „Traktat über die Genügsamkeit“, und weil eben dieser Text im Text die totgeglaubte Figur wieder ins Spiel bringt. Auf diese Weise bleibt dem Buch unter anderem der zu Beginn ermordete Protagonist erhalten.

Bellatin interessiert sich für das Böse, für das, was tiefdunkel ist an der conditio humana, und er erzählt davon, ohne dass er ein Urteil fällte, wie einer, der sich an seiner eigenen Teilnahmslosigkeit erfreut und an seiner Flucht vor der Moral. Es gibt Vorbilder für diesen kalten Tonfall, den Chilenen Roberto Bolaños etwa und dessen „Stern in der Ferne“, bis zu einem gewissen Grad auch den Argentinier Jorge Luis Borges.

Doch während man bei diesen weiß, dass das Böse mehr ist als ein selbstgenügsamer Exzess und die Kälte die einzig mögliche Antwort darauf, ahnt man bei Bellatin, dass es Konstruktion bleibt, Produkt des Fabulierens. Seine Kälte ist von der Art, dass sie sich an sich selbst aufheizt. CRISTINA NORD

Mario Bellatin: „Der blinde Dichter“. Aus dem Spanischen von Carina von Enzenberg. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2002. 136 S., 17,90 €