Zwischen zwei Geschäftsterminen

Männer, Familie, Sex: Die Frankokanadierin Nelly Arcan rechnet in ihrem Debütroman „Hure“ ordentlich ab

von ANDREAS MERKEL

Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Buch ein Welterfolg wird. Für alles andere ist das Thema Prostitution viel zu skandalös, der Text zu autobiografisch, die junge Autorin auf dem Cover zu gutaussehend und der Klappentext zu prominent und dämlich.

Damit ist bereits der Kredit umrissen, über den das Romandebüt „Hure“ der 1975 geborenen Frankokanadierin Nelly Arcan auf dem Buchmarkt verfügt. Die Autorin selbst versucht immerhin alles, um ihn so schnell und radikal wie möglich zu verspielen. Bereits im Prolog warnt sie ein potenzielles Bestsellerpublikum: „Deshalb besteht dieses Buch gänzlich aus Assoziationen, daher die immer neuen Wiederholungen und das Fehlen einer fortschreitenden Handlung, daher sein unerhört intimer Charakter. Was ich zu sagen habe, kann nur in meinem Kopf aufmarschieren, und es ist nicht viel, es handelt von meinem Vater, meiner Mutter, dem Phantom meiner Schwester und meinen zahllosen Freiern, die ich auf einen Schwanz reduzieren muß, um mich nicht zu verirren.“ Dies ist also kein Roman mit „prosaischen Details“ und „wunderschönen Metaphern“ (Catherine Millet im Klappentext), es ist vielmehr die Totalverweigerung eines Romans: Eine radikale Abrechnung mit dem Sex, mit der Familie und den Geschlechtern, betrieben im Geist der Psychoanalyse.

Eine junge Frau studiert in Montreal Literaturwissenschaft und arbeitet daneben erfolgreich als Edelnutte mit Anspruch. Es sind vor allem wohlsituierte, ältere Herren, mit denen sie verkehrt. Sie hasst ihre Kunden und das, was sie mit ihnen macht.

Gleichzeitig meint sie, nur so ihre provinzielle Herkunft und die streng katholische Erziehung ihrer ebenso prüden wie bigotten Eltern endgültig hinter sich lassen zu können. Was ihr allerdings nicht gelingt: Immer wieder kreisen ihre Gedanken um diesen Komplex. Da gibt es die Mutter, die sich vor dem Leben und der eigenen Weiblichkeit im Bett und im Dauerschlaf versteckt. Der Vater dagegen erscheint stets tiefreligiös und erzkonservativ, wird jedoch gleichzeitig als Fremdgänger imaginiert, der – eben ein Mann – auch bloß fremden Frauen hinterherguckt.

Dies ist der familiäre Hintergrund, vor dem die Ich-Erzählerin sich schließlich von klein auf selbst als „Schlumpfine“ durchschaut, die den Männern gefallen will. Zusehends verfällt sie der Macht, die sie auf diesem Wege über die Männer gewinnt, ebenso wie den psychologischen Deutungsmustern, mit denen sie sich immer bloß als die Tochter ihrer Eltern sehen kann – und als Hure.

Einzig der Umstand, dass Sexualität, der Urgrund allen Lebens, so etwas wie Prostitution ermöglicht und benötigt, führt hier zu einer Verzweiflung. Sie ist so groß, dass jedes Bemühen um Differenzierung oder Individualität lächerlich erscheint. Die Geschäftsbedingungen der Prostitution werfen einen Schatten, der auf alle Formen von Sexualität fällt. Sex ist das erste und letzte, was die Geschlechter aneinander bindet, und eben das scheint es zu sein, was man dem anderen nicht verzeiht. Am Ende eines Tages, an dem die Frau sieben Freier hintereinander bedient hat, möchte sie nur noch sterben.

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bleibt ein Teufelskreis der Erkenntnis und Selbsterkenntnis: „… ich kann mich nur im Kreis drehen beim Gedanken an eine Hure, die auf dem Rücken liegt und sich für einen Koitus zwischen zwei Geschäftsterminen darbietet, die ihre Beine bis Japan spreizt, bis an den äußersten Rand des Globus, wo Tag und Nacht gleich sind … ein einziger Mann in meinem Leben wäre gefährlich, für einen allein ist zuviel Hass in mir, ich brauche den ganzen Planeten, das weite Spektrum der Menschheit …“.

Natürlich kann man einem Buch nicht etwas vorhalten, was es gar nicht sein will. Dennoch geht einem der Ton eines einzigen endlosen Analyse-Monologs, in dem die Erzählung gehalten ist, bald schwer auf die Nerven. Und da Nelly Arcan im Interview zu Recht darauf Wert legt, als Autorin und nicht als „Neurotikerin“ wahrgenommen zu werden, muss darauf hingewiesen werden, dass ihr Debüt trotz furioser, hellsichtiger Passagen eine Zumutung jenseits aller intendierten Zumutung bleibt.

Die poetischen Bilder wollen pathetisch und radikal sein, kommen in der Regel aber nur biblisch überladen und voller „Achtung, Literatur!“-Metaphern daher. Was nüchtern und hard-boiled wirken soll, klingt allzu oft einfach nur nuttig und altklug: „Ja, das Leben ist durch mich durchgegangen, die Männer sind zu Tausenden in meinem Bett, in meinem Mund gewesen …“ Und so weiter und immer wieder, in endlosen Sätzen und mit hektischer Komma-Interpunktion, als hätte man das alles gleich wieder vergessen und müsste sich ständig selbst daran erinnern. So sind dies die Schwächen, die eng mit den Stärken des Buches zusammenhängen. Denn: „die Wiederholung macht dieses Gewerbe so ekelerregend“.

Nelly Arcans Debüt „Hure“ ist jedoch auch in seinem Scheitern noch zu unversöhnlich und gut, um es einfach wohlwollend wegzuloben oder ihm mit lauwarmer Kritik zu begegnen. Als Welterfolg würde dieses Buch am gründlichsten scheitern.

Nelly Arcan: „Hure“. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. C. H. Beck, München 2002. 191 S., 19,90 €