Unterwegs in den Tod

Michael Kimballs Debüt „Eine Familie verschwindet“ berichtet vom Sterben auf der Straße. Trost gibt es keinen

Dieses Buch macht keinen Spaß. Dafür ist das, was und vor allem wie es erzählt wird, einfach zu kaputt. Aber Spaß machten die letzten Filme David Lynchs auch nicht mehr. Man war tief beeindruckt – und träumt nur noch schlechter als sowieso schon. Lynch ist hier vielleicht wirklich eine angemessene Vergleichsgröße, denn das halluzinatorische, aus der gewalttätigen Realitätskrümmung entstehende Grauen ist dem von Michael Kimball nicht unähnlich.

Lynch allerdings hebt die Welt aus ihren rationalen Angeln, ohne Gründe zu nennen, während Kimball sich in seinem Debüt „Eine Familie verschwindet“ eine poetologische Lizenz verschafft: Er lässt seine ebenso trostlose wie irrwitzige Horrorgeschichte von zwei kleinen, noch kaum sprachmächtigen Kindern erzählen, einem Mädchen und seinem nur wenig älteren Bruder. Es ist eine vorrationale, mythische Welt, in der sie leben – vor allem das kleine Mädchen –, und der Leser muss sich erst ihr fassungsloses Gelalle, ihre Traumsprache übersetzen. Was ihm nicht immer gelingt.

So viel immerhin lässt sich sagen: Das noch ungetaufte Baby der Familie stirbt, und die Eltern, offenbar schier verrückt vor Schmerz, packen ihre Sachen und ziehen dann mit den beiden Geschwistern, und der verwesenden Kindsleiche im Kofferraum, quer durch die USA. Das Ziel ist eine beinahe metaphysische Vaterfigur namens Bomba in der Stadt Gaylord, vielleicht der Großvater. Auf dem Weg dahin müssen sie nach und nach all ihre Habe versetzen, um an Benzin zu kommen für die Weiterfahrt. Mehr und mehr reduziert sich die Familie auf sich selbst, und der Junge ahnt, dass mit den Dingen auch ihre Identität verloren geht: „Dieser andere Junge würde meine Kleider auftragen und in mein Leben und in sie hineinwachsen und mich spielen. Dieser andere Junge, der meine Kleider bekam, bekam mein Leben. Er würde die Kleider auftragen, in die eigentlich mein Bruder hätte hineinwachsen sollen.“ So erklärt sich der Titel. Und deshalb versucht das Kind all diese kleinen Dinge in Erinnerung zu behalten – um sie später irgendwann mal wieder auszulösen oder zu ersetzen.

Die Reise scheint kein Ende zu nehmen. „Momma“ wird noch einmal schwanger und verliert auch dieses Kind. Währenddessen streunen die beiden mit Leichen durchaus vertrauten Erzähler durch die Pathologie. Und wieder geht es weiter. Sie werden ausgeraubt, stehlen ein Baby, und auch das scheint ihnen wegzusterben, sodass sie es schließlich in ein Krankenhaus bringen und dort zurücklassen. Immer gibt es noch eine Kleinigkeit gegen Benzin zu tauschen, bis sie schließlich in Gaylord sind, in Bompas Haus. Aber „meine Mutter und mein Vater tauschten meine Schwester und mich zusammen mit all den anderen Sachen, die wir unterwegs eingetauscht hatten. Wir kamen zu Bompa, und meine Mutter und mein Vater kamen davon“. Verzweifelt reisen sie weiter, lassen ihre Kinder zurück – und das ist von allem das Grausamste: „Momma und Poppa gingen weg und ließen uns im Himmel zurück mit meinem kleinen Bruder und Gott, deshalb waren wir auch tot. Aber tote Menschen bleiben nicht dort, wo sie sterben. Sie gehen auch weg. Du kannst tote Menschen nicht daran hindern, irgendwohin wegzugehen, wo es tot in dir ist … Aber Sterben ist sowieso Weggehen. Du stirbst, wenn alle anderen in dir weggehen.“

Erst Kimballs infantiles Kunstidiom macht die totale Verstörung der beiden Protagonisten erfahrbar. Darin liegt die neuralgische Wucht dieser Prosa. „Eine Familie verschwindet“ – und nicht nur das Ende des Romans – ist so todtraurig, dass es einem weh tut. Das ist so evident, dass es sogar im Klappentext steht. FRANK SCHÄFER

Michael Kimball: „Eine Familie verschwindet“. Aus dem Amerikanischen vonBrigitte Heinrich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 147 S., 19,90 €