Am Strand Amerikas

Nach seinem Meisterwerk „Wo Legenden sterben“ erscheint nun Kem Nunns Surfroman „Wellenjagd“ auf Deutsch

von TOBIAS RAPP

Die amerikanische Geschichte kann man sich auch so vorstellen: Auf der Suche nach Freiheit zogen die Menschen immer weiter nach Westen. Als es angesichts des pazifischen Ozeans nicht mehr weiterging, bauten die einen Raketen, um in den Weltraum zu fliegen, und die anderen setzten nach Hawaii über, um sich von den Ureinwohnern das Surfen beibringen zu lassen. Mit diesem Wissen kehrten sie nach Kalifornien zurück. Fortan wurden sie nicht mehr gesehen: Sie waren am Strand.

Als Mitteleuropäer, der mit Ostsee-Urlauben aufgewachsen ist, steht man einigermaßen fasziniert vor den Surferromanen Kem Nunns. Von „Swells“ ist da die Rede, großen Wellenformationen, die in regelmäßigen Rhythmen Brecher an die Küste schicken, von Manövern wie dem „Inside-Bottom-Turn“, und alles läuft auf den magischen Moment des gelungenen Wellenritts hinaus: „Mit einem Mal war es alles eine einzige Handlung, eine ineinander fließende Reihe von Bewegungen, eine einzige Bewegung sogar. Alles kam zusammen, bis alles eins war: die Vögel, die Delphine, die Blätter von Seegras, auf denen unter Wasser das Licht glänzte, alles war eins, und er war eins damit.“

Das muss wohl Freiheit sein, die allumfassende Einsicht in die Notwendigkeit. Zwei Romane von Kem Nunn sind auf deutsch erhältlich. So unterschiedlich „Wo Legenden sterben“ und „Wellenjagd“ sind – Meisterwerk das erste, Frühwerk das letztere –, so sehr gleichen sie sich in einem: Die Suche nach jener Freiheit mag heroisch sein, sie führt jedoch in den Tod.

In „Wellenjagd“ ist der Tod noch recht profan. Ein Junge namens Ike verlässt das Kaff in der Wüste, in dem er aufgewachsen ist, um sich auf die Suche nach seiner Schwester zu begeben, von der es heißt, sie sei in schlechte Gesellschaft geraten. Er kommt nach Huntington Beach, einem legendären Surferspot im Süden Kaliforniens. Seine Schwester bleibt verschwunden, doch dafür landet Ike in einer Gruppe von Surf-Outlaws, die ihren Lebensunterhalt mit Drogen und Pornovideos verdienen.

Wie das Leben in Subkulturen so spielt: Die guten Tage des Surfens sind vorbei, Ike kann sie zwar noch auf vergilbten Fotos betrachten, doch eigentlich ist er zu spät – die Helden der frühen Tage, die einst wochenlang auf die perfekte Welle warteten, sind alt und zynisch geworden und am Ende legen sie sich gegenseitig um. „Wellenjagd“ aber ist ein junges und frisches Buch. Mit seiner „Junge rennt von zu Hause weg und landet in einer kalifornischen Subkultur“-Geschichte ist es genauso dem Genre des West-Coast-Stricherromans verwandt, wie es stilistisch bei Raymond Chandler oder Ross MacDonald Anleihen macht. 1984 erschien es in den USA und war Nunns Debütroman.

„Wo Legenden sterben“, das im Original 1997 herauskam und seit seinem Erscheinen als der beste Roman gehandelt wird, der je über das Surfen geschrieben worden sei, ist „Wellenjagd“ in vielem verwandt, es gibt jedoch einen gewichtigen Unterschied: Es liest sich, als hätte Nunn mächtig den Hall aufgedreht. Schon auf den ersten Seiten geht es vom beschaulichen Huntington Beach hinauf nach Norden, zu einem sagenumwobenen Surfspot namens Heart Attacks. Hier will Drew Harmon, ein legendärer Surf-Champion, in eiskaltem und Haifisch-verseuchtem Wasser die Welle seines Lebens reiten und Jack Fletcher, ein Fotograf, dessen beste Tage auch schon eine Weile her sind, soll ihn dabei ablichten: Es ist die Geschichte vom alten Mann und der Welle, die Nunn da erzählt, und er lädt sie mit zusätzlicher existenzieller Bedeutsamkeit auf, indem er sie in einem heruntergekommenen Indianerreservat ansiedelt. Es ist das verheerende Erbe der weißen Kolonisatoren, das das Surfergrüppchen auf dem Weg zu Heart Attacks durchquert: Indianer, die irgendwo zwischen den Trümmern ihrer Vergangenheit und den Anforderungen der Gegenwart verloren gegangen sind.

Ein merkwürdiger Sog geht von diesem Buch aus. Es wird von einer Sprache getragen, deren Schönheit man sich kaum entziehen kann, mit ihren Felsspitzen, die „für Gleisnägel einer viel größeren Welt geschaffen als der, in die sie hineingefallen waren“, und einem Mond, der sich bewegt „wie ein Raubtier zwischen den Galgenformen der Bäume“ und die in eigenartigem Kontrast steht zu dem Extremsportvokabular, das die eigentliche Tätigkeit des Surfens beschreibt. Aber wahrscheinlich ist dies ein Widerspruch, der nur einem Sofasurfer auffällt.

Kem Nunn: „Wellenjagd“. DuMont, Köln 2002, 360 S., 22,90 € ders.: „Wo Legenden sterben“. DuMont, Köln 2001, 293 S., 23 €