Für immer im falschen Leben

Wo kommen bloß all die grauen Wolken her? David Wagner und Gregor Sander pflegen in ihren Büchern „Was alles fehlt“ und „Ich aber bin hier geboren“ die Melancholie des Alltags

von GERRIT BARTELS

Eine Frau heftet ihrem Lebensgefährten einen Zettel mit der Überschrift „Was alles fehlt“ an den Kühlschrank; darunter malt sie zwei Babygesichter, klebt dazu ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Kinderbild und schreibt: „Johanniskraut und Parkettpflegemittel kaufen, Peeling, Reinungsbad und Fußbad“. Ein Mann erzählt von seinem Leben und dem seiner beiden Freunde Richard und Johannes in einem Kurort an der Nordsee. Richard und Johannes sind Zugezogene, die es nicht freiwillig in diesen verborgenen Winkel der Welt verschlagen hat. Sie alle drei fühlen sich nicht wirklich wohl in dem Ort, müssen aber trotzdem bleiben, und der Erzähler selbst betont mehrmals, so als wolle er sich entschuldigen, warum ihm das Weggehen doppelt schwer fällt: „Ich aber bin hier geboren.“

Die Frau, die ihren Kinderwunsch auf einer Einkaufsliste artikuliert, und die drei leicht angeschlagenen Männer aus dem Nordseekurort sind Figuren in Geschichten der jungen Berliner Schriftsteller David Wagner und Gregor Sander. Es sind nicht nur die jeweils ersten Geschichten ihrer Erzählbände „Was alles fehlt“ (David Wagner) und „Ich aber bin hier geboren“ (Gregor Sander), sondern auch diejenigen, die den Titel für die Bücher geliefert haben, was auch Sinn macht: Beide Geschichten stehen programmatisch für das, was Wagner und Sander an Themen und Stimmungen in ihren Büchern folgen lassen und was sie nicht zuletzt auch miteinander verbindet.

Die Figuren in David Wagners zwölf Geschichten reden auffällig viel über die Dinge des alltäglichen Lebens: Wie man das Geschirr am besten sauber bekommt; was es mit dem Käse aus Deutschland auf sich hat; warum es gut sein kann, sich die Zähne so lange zu putzen, bis das Zahnfleisch blutet. Nur verfolgen sie damit einen Grundsatz, den Josef Conrad einst so formuliert hat: „Die Sprache ist uns verliehen, um mit ihrer Hilfe unsere Gedanken zu verschleiern.“ Das, was wirklich fehlt – ein Kind, die tote Freundin, die tote Mutter, die Zuneigung des Vaters –, das kommunizieren sie nicht, das macht sich nur in Andeutungen und Nebensätzen bemerkbar. Ihr Problem: Sie können die Leerstellen in ihren seelischen Haushalten nicht mehr trennen von den Parkettpflegemitteln, die eingekauft werden müssen, und dem Tiefkühlkuchen im Ofen, für den noch die Sahne geschlagen werden muss.

In Gregor Sanders „Ich aber bin hier geboren“ wiederum können sich viele Figuren nicht lösen von der Enge und Stagnation des Gewohnten. Die Orte, in denen sie leben oder aus denen sie stammen, haben sie geprägt, kleine Städte in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Friesland, aber auch Ostberlin. Sanders Geschichten erzählen von vielen kläglichen Aufbrüchen: Wie der von Hella in der Erzählung „Morgens“. Sie stammt aus dem märkischen Städtchen F., zieht dann nach Berlin und will hier mit ihrem Mitbewohner Tommy eine Bank überfallen. Tommy aber erbt von einem Tag auf den anderen, nimmt von dem Banküberfall Abstand, und für Hella bricht eine Welt zusammen. Oder wie der von Karl in „Zu wenig Wasser, wo du lebst“. Nach einem erfolglosen Studium in Berlin kehrt er in seine Heimatstadt irgendwo im Norden zurück, heiratet eine dicke, unschöne Frau und malt ungelenke Bilder von Fischen. Er verschwindet schließlich, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Oder Bernhard in „Hier und Jetzt“. Nachdem er seine Stelle als Pförtner in einer Konservenfabrik im Ostseebad Grünbad verloren hat, unternimmt er einen Rekordversuch fürs Guinnessbuch: Er stellt sich eine Woche lang ans Meer und schaut es schweigend an.

Es liegt eine beklemmende Atmosphäre über den Erzählungen dieser beiden Bücher. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, die schlechte Stimmung, die jungen Schriftstellern im Moment allenthalben entgegenschlägt, hätte sich auch auf das Debüt von Sander und das zweite Buch von Wagner niedergeschlagen. Graue Wolken, wo man nur hinschaut. Wo ist bloß die rote Sonne hin? – um es mit Blumfelds Jochen Distelmeyer zu fragen.

Gregor Sanders direkte und einfach aufgebaute Geschichten, die mitunter stark an die Erzählungen in Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ erinnern, sind durchweg melancholisch grundiert, bergen aber keine weiteren Geheimnisse. Es ist ja schon schwer genug, die Zwangsjacke der eigenen Biografie abzustreifen. „Ich lebe im falschen Leben“, sagt ein junger Mann einmal unvermittelt, um sich interessant zu machen bei seiner Angebeteten, bekommt dann aber nur zu hören: „Dann tu was dagegen!“ Doch nichts schwieriger als das!

Bei David Wagner allerdings hat die traurige Grundstimmung etwas elegant Kalkuliertes und Kühles, denn er versteht es ausnahmslos geschickt, die unspektakuläre, von den Dingen bestimmte Gegenwart mit den Deformationen aus der Vergangenheit zu verknäulen. Anders als in seinem Debütroman „Meine nachtblaue Hose“, der eine wohlbehütete und trotzdem ungute Kindheit und Jugend im Rheinland und ihre Fortsetzung in Berlin beschrieb, sind seine Figuren jetzt in der großen, weiten Welt angekommen und bewegen sich zwischen Böhmen, Wien und Paris, zwischen Mexiko, den USA und Frankfurt hin und her. Doch auch dieses ganze Unterwegssein hilft nichts: Am Ende einer Reise, am Ende allen Erinnerns, am Ende selbst des gelungensten Bananenbrots steht nie ein neuer Anfang, sondern nicht mehr als ein resignierendes Immer-weiter-So.

Nur konsequent, dass Wagners letzte Geschichte nur noch ein langer und leer laufender Dialog ist, der aus Sätzen wie diesem besteht: „In Deutschland kann man ja eigentlich gar nicht leben, auch in Mailand könnte ich nicht leben. Mailand ist so geschäftig, da kann ich doch gleich in München bleiben.“

David Wagner: „Was alles fehlt“. Piper Verlag, München 2002. 150 S., 15,90 €ĽGregor Sander: „Ich aber bin hier geboren“. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2002. 140 S., 14,90 €