strafplanet erde: das protestantische knie von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Obwohl unverheiratet – oder gerade weil –, passierte der Unfall beim völlig haltlos-leidenschaftlichen Ehegatten-Splitting. Etwas hatte sich verkantet, eine schreiend schmerzhafte Blockade des Scharniers, die sich durch Gewaltanwendung nur kurzfristig lösen ließ. Ohne dass man sie genau verstand, klang die fachärztliche Diagnose niederschmetternd: tiefe Lappenrisse am medialen Hinterhorn sowie in der Pars intermedia, außerdem Horizontalrisse und eine Chondromalazie Stadium II. Für uns, die über das kleine Latinum nicht hinausgekommen sind: Am Knie und drumherum war einiges kaputt.

Ein von Contergan-Schurken lebenslang gehandikapter Freund, dem ich davon am Telefon erzählte, schmetterte mit voluminösem Wohlklang in der vom Grammy gesalbten Bassbariton-Stimme zurück: „Tja, kann mir nicht passieren, ich habe keine.“ Im Übrigen reise er bald nach New York: „Carnegie Hall!“ Noch ehe ich ihm so etwas wie „So hat eben alles seine zwei Seiten“ schmierig servieren konnte, hatte er sich verabschiedet.

Das war das Stichwort. Denn da eine Operation unausweichlich war, musste ich mich auf die erste Vollnarkose meines Lebens gefasst machen. Wie der erste Kuss, der erste Beischlaf gehört sie bzw. die Aussicht darauf in die Kategorie der unvergesslichen Erlebnisse, und – bei Paranoikern zumindest – in den Themenkreis „Katastrophe“, deren Bewegungskurve Arno Schmidt in seinen „Berechnungen“ als „Spirale; einwärts“ definiert, ihr Tempo als „sich beschleunigend“. Außer der Geschlechtsverkehrpremiere benennt er weitere Beispiele: geplanter Mord und „Fronteinsatz mit letalem Ausgang“.

Weg mit diesen brutalen Assoziationen, wende dich der Dichtung zu! Zwanzig Jahre nach der ersten Begegnung stieß ich wieder auf Morgensterns Galgenlied vom Knie, das ein anderer Freund mailte: „Ein Knie geht einsam durch die Welt. / Es ist ein Knie, sonst nichts! / Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt! / Es ist ein Knie, sonst nichts. // Im Kriege ward einmal ein Mann / erschossen um und um. / Das Knie allein blieb unverletzt – / als wär’s ein Heiligtum …“

Meine Heidenangst vor der Komplettbetäubung wich nicht, selbst der Hoffnung spendende erste Satz aus Felicitas Hoppes Erzählung „Das katholische Knie“ half nicht weiter: „Mein Gott, so rund, so glatt, so fest und so stabil. So viele Vorzüge auf einmal!“ Das war ja das Problem: Nix fest, nix stabil. Und eben deshalb musste ich eine Narkose riskieren?

Was hat ein Knie eigentlich zu bedeuten? Das war die nächste Frage, und der Blick fiel wie von ungefähr auf das krönersche Lexikon der Symbole. Ob das überhaupt drin erwähnt wird? „Knie; siehe Geburtsorgan“. Ach du meine Güte! Würde jetzt alles tatsächlich die Gestalt einer wahnhaft in sich gekehrten Spirale annehmen, die sich geometrisch fassungslos zwischen Todesangst und Geburtstrauma so dahinschlängelt? Bei Indogermanen, „aber auch bei Naturvölkern“ finde sich das Motiv der Kniegeburt, hieß es da, „öfters lunarmythologisch gedeutet“. Immerhin war ich jetzt beschäftigt.