Im Galopp der Geschichte

Der Erfinder des Jazz kommt aus Litauen. Porträt eines vergessenen Musikers

Radaudenauskas lacht, weint, schreit, flüstert, gurgelt, gurrt die Tragödie seines Lebens

Boresdanes Radaudenauskas ist alt. Nein. Nicht einfach alt. Sondern uralt, steinalt – alt hoch drei. Zahllose Falten haben sich in sein Gesicht gegraben. Wie ein Elsternschnabel ragt die Nase hervor. Über den spitzen Knochen liegt graue Haut, runzlig wie Butterbrotpapier. „Man sagt“, sage ich, „sie seien vor 120 Jahren geboren worden.“ – „Ich hab vergessen, wann ich geworfen wurde, Mann“, fährt er mich an, „ist zu lange her. Schmeiß mal Kippe!“ Gehorsam händige ich ihm meine Zigaretten aus.

Ich bin vis-a-vis mit einer lebenden Legende. Mit dem wahren, dem vergessenen Erfinder des Jazz. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Ich stelle die erstbeste: „Wie war das denn mit King Oliver?“ Radaudenauskas regt sich sofort auf. „King Oliver! Dieser Scheißdrecksack von einem Scheißdieb! Hör mal zu, Mann: King Oliver ist ein armseliger kleiner Scheißer gewesen, als er mit seinem Scheißhorn in meinen Klub marschiert ist, damals, 1917. Aber einen hübschen Hut hat er auf dem Kopf gehabt. Der Scheißpenner.“ Und nun muss ich gar keine Fragen mehr stellen. Radaudenauskas schreit, flüstert, lacht, weint, gurgelt, gurrt mir in einem langen Monolog seine Geschichte zu – die Tragödie seines Lebens.

Alles begann im Frühjahr 1912. Boresdanes Radaudenauskas, Einserabsolvent am Konservatorium der litauischen Hauptstadt Oslo, spielt seit Jahren das erste Kornett im wichtigsten Orchester der Stadt, dem Baltharmonium. „Haydn, Händel, Bruckner – ich hab sie alle durchgezogen. Hat mich irgendwann gelangweilt. Ich wollte was Neues machen, Mann! Einen neuen Sound in die Welt ballern – nicht mehr dieses verklemmte und verwichste Zeug vom Blatt spielen.“ Er „kündigte“, indem er während einer „Messias“-Aufführung demonstrativ auf das Pult des Dirigenten kackte. „Da kam ’ne Menge Frust raus, Mann.“

Noch am selben Abend betrat Radaudenauskas ein Tanzcafé der Metropole. „Die Band spielte Walzer, einen nach dem anderen. Nicht zum Aushalten. Irgendwann bin ich auf die Bühne, hab dem Kapellmeister eins auf die Fresse gedrückt, mein Horn rausgeholt und einfach drauflos gespielt. So hab ich den Jazz erfunden.“

Radaudenauskas’ revolutionäre Entdeckung war die Synkope. „In den Hühnerhirtenliedern unseres Volkes wird dauernd synkopiert. Das kommt vom Kartoffelweinsaufen. Man hickst hier in einer Tour. Da machst du beim Singen automatisch Synkopen.“ Doch erst er, der Klassik-Kenner, brachte die Folklore in polyphone Form – in Jazz. „Das wird ja auch immer ganz falsch erzählt. ‚Jazz‘ ist kein Negerslang. So nennen wir hier, was die Gäule machen, wenn sie vor den Notgeilen wegrennen: ‚Jatzankas‘. Ihr nennt das Galopp. Hör dir das mal an, Mann: kantapper, kantapper, kantapper – nichts als Synkopen! Die Stadt war damals voll mit dem Geräusch! Ich hab’s nur abgekürzt. Und es passte wie Arsch auf Eimer.“

Der Jazz eroberte die Litauer im Sturm. Das alte Tanzcafé, in dem Radaudenauskas nun jeden Abend auftrat, konnte die Gäste bald nicht mehr fassen. Vorher „Diele der gediegenen Lustbarkeiten“ genannt, hieß es jetzt „Noten in Blau“. Das greise Genie: „Sogar diesen Namen haben sie mir geklaut. Ihr Scheiß-‚Blue Note‘ – das bedeutet nichts. Wortgeklingel! Bei uns jedoch … Wir waren wirklich bei jedem Set blau und abgefüllt. Ganze Kartoffelernten haben wir weggesoffen.“

Als 1917 die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, verirrte sich ein amerikanischer Truppentransporter an die litauische Küste. An Bord: King Oliver, Louis Armstrong und Bix Beiderbecke. „Lauter grüne Jungs. Na ja – zwei von denen waren schwarz. Die hatten jedenfalls keinen Dunst von nichts. Spielten ganz manierlich Polka und so was. Und dann kamen sie hier rein, sperrten die Mäuler auf und … und dann waren sie Stars.“

In der Tat. Kaum zurückgekehrt, verbreiteten die gelehrigen Männer in ihrer Heimat Radaudenauskas’ synkopische Botschaft. „Sie haben alles von mir, Mann. Alles, was dann kam, stammt auch von mir. Swing, Bebop, Lyrik mit Jazz – einfach alles.“ Der unbeschreiblich alte Herr entzündet die letzte Zigarette aus meiner zollfreien Schachtel. „Wie auch immer. Die Welt hat uns vergessen. Hat mich vergessen.“

Ich nehme Abschied von dem plötzlich in sich versunkenen Greis. Nachdenklich wandere ich durch die nächtlichen Straßen von Oslo. Und dann höre ich es: Kantapper, kantapper … ein fliehendes Pferd! Eine Horde synkopisch johlender Jünglinge stürmt hinterher. Später kehre ich in einem der zahllosen Jazzlokale der Metropole ein. Die Band spielt „Seltsame Kartoffelfrucht“. Billie Holiday ist mit einer „Cover“-Version des Songs zum Weltstar geworden. Ein schaler Geschmack erfüllt meinen Mund. Ich bestelle einen Erdapfelwein. GERT OCKERT