Der Junge aus dem Baum

„Breaking the Waves“ stand Pate bei Dom Rotheroes Film „My Brother Tom“. Aber statt den Tod zu beschwören, macht er die sinnliche Binnenwelt zweier exzentrischer Jugendlicher zum Zentrum – es geht um die Sprachlosigkeit und die Einsamkeit von Außenseitern

Schauspieler, die mit körperlichem Spiel Extreme ausloten, mal wieder die entfesselte DV-Kamera, nicht zuletzt ein Plot um das längst geläufige Leidensmuster sexuellen Missbrauchs – mit Abstand bestrachtet ist Dom Rotheroe's Film ein synthetisches Baukastenwerk, mit jedem, aber auch wirklich jedem Element auf Wirkung bedacht.

Der britische Dokumentar- und Kurzspielfilmer brauchte sechs Jahre zur Realisierung seines ersten großen Spielfilms. Auf dem Weg änderte er mehrmals die technischen Vorgaben; jetzt kann er im Presseheft von der Präsenz seiner Darsteller und den überraschenden Kameraexperimenten schwärmen und als Schlüssel zum Ganzen nur noch das Wort „Magie“ in die Runde werfen. So einfach liest sich das manchmal, aber was für eine emotionale Wucht stand in diesem Fall dahinter! Der Mann ist infiziert von dem Fieber, das seinen Film aufheizt. Und was das Schöne an diesem Film ist: Dieses Fieber vermeint man auch als Zuschauer oder Zuschauerin in jeder Szene zu spüren.

Es geht in „My Brother Tom“ um Schmerz, Sprachlosigkeit und die Einsamkeit des Außenseiters. Vor allem geht es um die phantasmagorische Kraft, mit der zwei Wahlgeschwister ihre eigene symbolische Sprache finden, Dinge und Orte mit dem Zauber ihrer gemeinsamen Vertrautheit besetzen, miteinander spielen, um der Not der Sprachlosigkeit zu entfliehen und eine eigene absolute Schönheit zu entdecken.

Und nicht zuletzt beschreibt der Film die Konfrontation der dunklen Märchenwelt seines Heldenpaars mit der Wirklichkeit, den Verlust der Binnenwelt und Zugewinn an Reife. Wuchtige dramturgische Bogen also, aber alle mit großer Genauigkeit geerdet und beglaubigt.

Ursprünglich basierte das Skript von Rotheroe auf Entwürfen seiner Koautorin Alison Beeton-Hilder, die neben ihrem Filmstudium auch lange Jahre therapeutische Theaterprojekte mit Obdachlosen und Junkies geleitet hatte. Deren direkte Art, zu kommunizieren und daraus filmische Form zu gewinnen, faszinierte den Filmemacher und seine Autorin.

Kein Thriller um die unsichtbare Gewalt hinter Reihenhausfassaden interessierte sie, kein Sozialdrama um Opfer und Täter sollte im Zentrum stehen, vielmehr die sinnliche Binnenwelt von zwei exzentrischen Jugendlichen. Will man „My Brother Tom“ überhaupt eine Botschaft unterstellen, dann die vom emotionalen Reichtum und der allegorischen Wucht des Außersichseins. „Breaking the Waves“ stand Pate, das zeigt die Wahl für den Kameramann Robby Müller, aber anders als Lars von Triers Märtyrerinnengeschichte beschwört Rotheroes Film nicht den Tod, sondern den Durchgang zum Ende der Kindheit.

Als ob die Autoren den Anschein von Unmittelbarkeit vermeiden wollten – Makel aller Coming-of-age-Filme, die Retro-Träume von Erwachsenen sind –, zeigen sie das Fluchtreich der beiden Sechzehnjährigen Jessica (Jenna Harrison) und Tom (Ben Wishaw) mit wunderbaren Anleihen an die Shakespeare’sche Mythologie: ein Wald hinter der gradlinigen britischen Reihenhaussiedlung, darin ein kreisrunder grüner Tempel zum Eintauchen, die magische uterale Erdhöhle des Jungen mit Relikten seiner Kindheit ausgestattet, Bäume, die den Bildern des Films den suggestiven Eindruck eines Schattenreichs vitaler Erdgeister vermitteln.

Jessica, der sanften, angepassten Schülerin in Uniform, fällt eines Tages ein Junge aus einem brennenden Baum vor die Füße, auf der Flucht vor anderen Jugendlichen. Tom bringt das Mädchen mit eigenwilligen Zeichen dazu, seiner Spur in den Wald zu folgen, überrrascht sie immer wieder mit animalischen Sprüngen von den Bäumen und einer manchmal groben Form der Annäherung, ohne sein anderes, „normales“ Schülerleben und dessen gewaltsames Geheimnis preiszugeben.

Wie es dem Film gelingt, einen wie mühelos in die Parallelwelt der Kids mitzunehmen und zugleich deren Wechselbeziehung zum doppelgesichtigen (freundlich und zugleich brutalen) Alltagsmilieu ihrer Umgebung zu zeigen, ist selten im Kino.

CLAUDIA LENSSEN

My Brother Tom“. Regie: Dom Rotheroe. Mit: Jenna Harrison, Ben Whishaw, Adrian Rawlins, Judith Scott. Großbritannien 2001, 110 Minuten