Späte Heimkehr

DAS SCHLAGLOCH    von MATHIAS GREFFRATH

Die Opposition hantiert hilflos zwischenLinkspopulismusund Parteinahmefür das Großkapital

„Ja, das hätten Sie wohl gern gehabt“, sagte Sigmar Gabriel, als die Journalisten ihn fragten, warum denn all diese Umverteilungspläne kein Thema im Wahlkampf gewesen seien. Dabei lächelte er verschmitzt. Herbert Wehner hätte nicht lakonischer sein können. Wahlbetrug? Ach was. Mag die Opposition sich heiser schreien, die Springer-Presse von Steuerlüge, Neidsteuer, Krieg gegen die Reichen, Vernichtungsfeldzug gegen die Raucher, Enteignung der Erben schreiben. Was wir erleben, ist die Rückkehr der deutschen Sozialdemokratie zu ihren tiefsten Grundwerten.

Wer feine Ohren hatte, der konnte es schon im Wahlkampf hören trotz all der Sparschalmeien und Standortpauken: „Ich bin stolz auf meine Biografie als Arbeiterkind“, hatte der Kanzler da gerufen und hinzugefügt, er, Gerhard Schröder, sei angetreten, den „Herrschaftsanspruch deutscher Konservativer zurückzuweisen“. Späte Heimkehr nach langem Marsch, und alle die, welche kleinmütig glaubten, es reiche ihm, drin zu sein, und die Geschichtsbücher seien ihm schnuppe, die werden nun von diesem Kanzler beschämt.

Die linke Kritik an der ersten Regierung Schröder hatte das Glotz’sche Theorem vergessen: Politik in komplexen Gesellschaften ähnelt dem Steuern von Tankern: sie sind langsam zu manövrieren. Aber nun sehen wir: Die Senkung des Spitzensteuersatzes um 8 Prozent in der letzten Legislaturperiode, die faktische Streichung der Körperschaftssteuer, das Steuergeschenk an die Verkäufer von Unternehmensbeteiligungen – das war nichts anderes als der lange Bremsweg vor dem Kurswechsel! Aber nun wird umgesteuert.

Freilich, bevor der Große Plan in Kraft treten konnte, musste zuerst die Wahl gewonnen werden. Denn Sozialdemokraten wollen keine Taschenbücher schreiben, sondern Wirklichkeit gestalten. Wahlen aber werden in der Mitte gewonnen. Nur deshalb all die Spar- und Kraftfahrerberuhigungsrhetorik. List der Vernunft, Realpolitik, fast machiavellistisches Verständnis von Ziel und Mitteln, rechts reden, um links zu handeln – es grenzt ans Leninistisch-Geniale, wie sie mit ihrer Austerity-Politik, mit den Plänen zur perspektivischen Senkung der Massenlöhne durch Verstaatlichung der Leiharbeit die CDU-Strategen in einen populistischen Wahlkampf gegen den Kanzler der Bosse getrieben haben und damit Verwirrung im Arbeitgeberlager stifteten. Aber dialektische Politik ist ein filigranes, riskantes Spiel, oft in der Gefahr, die eigene, kleinmütige Basis zu verwirren. Weshalb die Wahlkampfzentrale erst gegen Ende eine Prise Polemik gegen die „maßlose Raffgier“ in den Chefetagen und das „Ausplündern der kleinen Leute“ verordnete, rhetorisch wattiert durch die Projektionsformel vom „Deutschen Weg“. Alle Achtung, Genosse Machnik, die Dosierung war doll abgestimmt. Und auch das Timing mit Clement war Taktik vom Feinsten. Seine Aufnahme ins Wahlkampfteam hätte das Risiko geborgen, genau das halbe Prozent linkstraditionalistischer und rhetorikverliebter Wähler am linken Rand der SPD in die Arme der PDS zu treiben und damit eine regierungsfähige Mehrheit für die die „Koalition der Erneuerung und Gerechtigkeit“ (F. Kuhn) zu verhindern.

Aber nun ist die GERECHTIGKEITSKOALITION, wie Franz Müntefering sie offiziell getauft hat, an der Macht. Die Zeiten, in denen sich „nur noch die Reichen Bildung, Kultur und sicheres Wohnen leisten können“, sind vorbei, verkündet Gabriel. Hans Eichel enthüllt, was er von nun an unter „Konsolidierung“ versteht: die Wiederherstellung der „sozialen Symmetrie“ vermittels einer „besseren Erfassung der Vermögen“ und einer „Mindestbesteuerung für große Unternehmen“. Für die kürzlich noch liberal irrlichternden Grünen gibt es nur noch „Gerechtigkeitssteuern“ (Kuhn); und Porschefahrer wie Rezzo Schlauch rücken in die zweite Reihe, sie harmonieren nicht mit dem neuen Ideal des „Volksvertreters“.

Ein hoffnungsvoller Anfang ist gemacht, aber der Weg ist lang. Der Modernisierungs- und das heißt Gerechtigkeitsrückstand Deutschlands ist vor allem auf dem Steuersektor erheblich. Noch immer werden hierzulande so wenig Gewinnsteuern erhoben wie in keinem anderen Land der OECD, was die staatlichen Investitionen in Infrastruktur und Bildung schmerzhaft einschränkte. Aber schon arbeiten Regierungsexperten an den Plänen, wie der Steuerstandort Deutschland etappenweise auf international übliches Niveau gehoben werden soll. Wie schnell der Anteil der Vermögenssteuern am Steueraufkommen (derzeit 3,6 Prozent) auf den Stand etwa von Frankreich (10,5), der USA (14,0) oder gar Japans (16,3) gehoben werden wird, ist im Einzelnen noch unbekannt, aber die Gerechtigkeitsregierung fängt ja erst an.

Mit dem neuen Amt Wolfgang Clements schließlich gewinnt der „Deutsche Weg“ deutliche Konturen: Die lange Durststrecke, in der Wachstum mit Ungleichheit einherging, mündet in eine neue, zeitgemäße Sozialpartnerschaft. Clements oft, von links, zitierter Satz, Ungleichheiten in Einkommen, Vermögen und Lebenschancen seien „ein Katalysator für individuelle und auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“ war, so zeigt es sich heute, nicht affirmativ, sondern kritisch gemeint, bezogen auf die Übergangsphase vor dem Eintritt in die Gerechtigkeitsgesellschaft. Wer, wenn nicht Wolfgang Clement, der einst ein schönes symbolisches Bekenntnis zum proaktiven Primat der Politik abgelegt hat, hätte mehr Autorität, um die Unternehmer nachhaltig daran zu erinnern, dass „Arbeitsplätze in der Wirtschaft entstehen“.

Den „Herrschaftsanspruch der deutschen Konservativen zurückzuweisen“, wie Gerd Schröder sein „Selbstverständnis“ definiert, heißt freilich auch, kulturelle Hegemonie über das sozialdemokratische Milieu hinaus zu gewinnen. Die Aussichten sind derzeit gut, die Opposition hantiert hilflos zwischen linkspopulistischen Bruchstücken und offener Parteinahme für das multinationale Großkapital. Schon setzen die Redenschreiber für die Regierungserklärung zum semantischen Angriff auf die letzten Bastionen des Besitzbürgertums an. „Meine Damen und Herren von der Opposition“, so heißt es in einem der Entwürfe, „wenn Sie hier Sozialismus rufen: muss ich, der Sohn einer allein erziehenden Arbeiterfrau, Ihnen zitieren, was einer aus Ihren Kreisen, der große Modernisierer und Plutokrat Rathenau, vor 100 Jahren geschrieben hat? ‚Wirtschaft ist nicht Privatsache. An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt. Besitzverteilung ist ebenso wenig Privatsache wie Verbrauchsanrecht. Die Anfänge eines neu sich bildenden Sittenbewusstseins haben wir wahrgenommen: ein Empfinden, das nicht mehr bereit ist, die Ansprüche auf materiellen Weltanteil, wie sie aus dem freien Spiel der Kräfte sich entwickeln, ungeprüft hinzunehmen. Und zu den unsittlich sich färbenden Ansprüchen des Spekulanten und des Monopolisten gesellt sich der Anspruch des verdienstlos auf sein Herkommensrecht pochenden Massenerben …‘“

Die Sozialdemokraten zeigen ein fast machiavellistisches Verständnis von Mitteln und Zweck

Genossen, der lange Marsch hat sich gelohnt. Wir sind erst am Anfang. Und wenn wir jetzt in langen Novembernächten durch den Berliner Tiergarten gehen und es funkelt durchs Gehölz, dann ist das kein Irrlicht. Nein, beim Kanzler brennt noch Licht.

Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin