Perpetuum mobile der Traurigkeit

Quälend langsames Vergehen der Zeit: Auch ohne atmosphärische Liedtitel wie „Dandys lungern durch die Nacht“ zelebriert das Mülheimer Quartett „Bohren und der Club of Gore“ in der Tanzhalle St. Pauli seinen mächtigen Doom-Jazz

von MATTHIAS SEEBERG

Es ist genau die richtige Musik, die man in einer Bar erwartet, über deren Eingang dem Besucher eine flackernde Leuchtreklame verkündet: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Dabei ist es egal, ob sich diese Bar in Mühlheim an der Ruhr befindet, an der Bowery New Yorks oder in unserer Phantasie, denn die Warnung betrifft nicht den Ort, sondern die Musik von Bohren und der Club of Gore, die jetzt in der Tanzhalle St. Pauli spielen.

Seit ihrem 1994er Debüt-Album Gore Motel hat die Band die Ästhetik der Langsamkeit zur Vollkommenheit entwickelt. In ihren langen und düsteren Stücken nähern sie sich dem völligen Stillstand, ohne sich ihm gänzlich hinzugeben. Da klingt es verwunderlich, dass die Bohren-Musiker einst als 7 Inch Boots im Hardcore-Stil ihrer besonderen Vorliebe für Slayer Ausdruck verliehen. Doch diesem Ausflug ins Death-Metal-Genre folgte aus Gründen selbst diagnostizierter technischer Unfertigkeit die Entscheidung zur stetigen Verlangsamung, ohne dem Faible für die Atmosphäre des Horrors untreu zu werden.

Seidem widmen sich Bohren vielmehr dem Sterben im Zeitlupentempo, begleitet von den Klängen einer melancholischen Hall-Gitarre, wie es auf dem zweiten Album mit dem Titel Midnight Radio ganze 145 Minuten zu vernehmen war. Die Musik von Bohren und der Club of Gore lebt auch weiterhin vom Fehlen jeglicher Entwicklung, die neben dem quälend langsamen Vergehen der Zeit das Ende jedweder Geschichte regelrecht spürbar machte.

Vor zwei Jahren erschien das dritte Album Sunset Mission und der bisher von Gitarre und Bass dominierte Klangteppich wurde um ein Saxophon angereichert, das nicht nur die Kritikerzunft regelmäßig zu Assoziationen mit Angelo Badalamentis Soundtracks von David Lynchs surrealistischen Kaleidoskopen bewegte.

Auch das neue Album Black Earth verbreitet wieder diese schwerelose Melancholie, die sich von Stück zu Stück reproduziert wie ein Perpetuum mobile der Traurigkeit. Der doomige Bass und das nach einem menschenleeren film noir klingende Saxophon laden ein zu einem Vergleich mit John Coltranes sinistren Oden auf dem Album Giant Steps von 1959. Auch hier trügt der Eindruck des ersten Hörens: Nach und nach enthüllt sich hinter einer zunächst harmlos wirkenden Verführung zum Tagtraum ein schwarzes Loch, durch das man unversehens in die Tristesse eines nicht enden wollenden und gänzlich ereignislosen Alptraums hinabgezogen wird.

Bilder des namenlosen Grauens ziehen beim Hören von Black Earth am inneren Auge vorüber und unter den flüsternden Stimmen der Untoten, die man im dichten Nebel der Klangflächen zu hören glaubt, ist – neben denen von Laura Palmer und Robert Johnson – auch die des ewigen Wiedergängers unseres Unterbewusstseins zu vernehmen: Mister Kurtz, das Mensch gewordene Böse aus Joseph Conrads Roman Heart of Darkness, der unaufhörlich das gestammelte Memento „The Horror ...“ wiederholt.

Beim Konzert, das sicher in gewohnter Manier in völliger Dunkelheit stattfinden wird, sollte man sich in die Seelenlandschaft des Dandys Des Esseintes aus Joris Karl Huysmans A Rebours versetzen, der in einer neonbeleuchteten und mit rotem Samt verkleideten Limousine ganz versunken in die Lektüre eines James-Ellroy-Romans in das Herz der Finsternis unterwegs ist. Ob man von dort aus unversehrt wieder zurückkehren kann, wird sich erst am Ende der Nacht herausstellen.

Donnerstag, 21 Uhr, Tanzhalle