Weniger Staat

8 Stunden sind ein Tag: In seiner Komödie „The Navigators“ blamiert Ken Loach die Wundermittel des neuen Kapitalismus wie die berühmte Ich-AG

von MANFRED HERMES

Zwischen 1994 und 1997 wurde British Rail entflochten und in etwa 100 Privatunternehmen zerlegt. Der Staat wollte seinen größten Subventionsposten loswerden, den Verkaufspreis als Steuerreduktion weitergeben, die am anderen Ende, so das Heilsversprechen, als Investionswelle über das Land rollen würde. Was der krönende Abschluss von Margaret Thatchers Privatisierung-Rallye sein sollte, war für andere – etwa Labour vor dem Regierungsantritt – der größte Witz in der neueren englischen Industriegeschichte, der gar nicht bis zum Zugunfall von Hatfield auf seine „tragische“ Pointe warten musste.

Vielleicht war das der Grund, „The Navigators“, Ken Loachs Film über die Privatisierung der Bahn, als Komödie zu bezeichnen. Denn ansonsten haben seine Leute nicht viel zu lachen. Bei ihm geht der Big Bang in einem kleinen Depot in Sheffield los: Eine Versammlung von Gleisarbeitern wird einberufen. Alle haben Spaß, kaum einer nimmt von den neoliberalen Floskeln und dem käsigen Video Notiz, das die allseitigen Vorteile der Privatisierung aus der Helikopterperspektive feiert. Dort heißt es: „Tote müssen in einem vertretbaren Rahmen bleiben.“ Man lacht, aber die Gleichung Kapitalismus gleich Tod war durchaus nicht als Witz gemeint.

Kaum hat sich British Rail in eine Firma namens East Midland Infrastructure verwandelt, wird die Belegschaft aussortiert, mit Abfindungen zur Kündigung expediert und der störrische Rest in für sie ungünstige Verträge gepresst. Neue Firmenschilder sind nicht nur Labels, sondern markieren neue Territorien. Männer, die gestern noch Kollegen waren, stehen sich heute als Mitarbeiter verschiedener Unternehmen gegenüber, die um dieselben Aufträge konkurrieren.

Was in der Planung womöglich logisch und einfach umsetzbar schien, produziert vor Ort das reine Chaos. Eingespielte Abläufe beginnen zu stottern, Fachkenntnisse lassen sich nicht mehr anwenden, Eigenverantwortung ist nicht erwünscht, während aber Verantwortung für Entscheidungen verlangt wird, die nicht vertretbar sind. Da wird viel Komödienstoff gezündet, wobei die possierlichen Seiten der Privatisierung ihren knebelnden Eindruck behalten.

Dann wird aus East Midland Infrastructure plötzlich Gilchrist Engineering und der Niedergang zündet seine nächste Stufe. Die gesetzlichen Standards werden weiter ausgehöhlt oder einfach geleugnet. Diejenigen, die sich mit Arbeitsverträgen locken lassen, die ihnen wegen kurzfristiger finanzieller Vorteile jede Absicherung vorenthalten, werden damit zu jenen Ich-AGs, deren Gründung auch hierzulande noch massiv gefördert wird. Und so werden die Teams immer weiter dezimiert, nötiger Ersatz fallweise in Form unqualifizierter Zeitarbeiter beschafft. Irgendwann ist die Personaldecke so dünn, dass Sicherheitsvorschriften umgangen werden müssen und jener tödliche Arbeitsunfall eintritt, der die Ausnahme bleiben sollte.

„The Navigators“ macht unmissverständlich klar, dass er diese Zustände als zynisches Uhrwerk begreift, das mit Schlagworten wie „Deregulierung“, „Leistung muss sich wieder lohnen“ oder „weniger Staat“ viele Fliegen mit einer Klappe zu schlagen hat. Und analog schlägt auch Ken Loach vieles mit einer Klappe. Das Großartige an seinem Film ist der gelungene Ausschnitt. Loach fährt keine großen Verhältnisse auf, um ein genaues Gesellschaftsbild zu zeigen. Eine kleine Männergruppe, die am unteren Ende einer öffentlichen Dienstleistung zuarbeitet, reicht aus, um die Privatisierungseffekte als schrittweise Verschiebung zu beschreiben, in der sich trotzdem alles mit allem verzahnt.

Die Zerstörung von Zusammenhängen, Entmachtung von Instanzen betrieblicher Mitbestimmung und sozialen Ausgleichs, die Entwertung von Arbeit zu einem Teil des Warenstroms machen Solidarität mit anderen und den eigenen Interessen für Arbeiter zu einer fast technischen Unmöglichkeit. Während sich andererseits aus Staatsbetrieben eine Art Schattenwirtschaft entwickelt, die gerade ihren Hauptauftrag aus Profitgründen herauswirtschaftet und damit den Tod von Fahrgästen und Belegschaft einkalkuliert.

Ist das nicht auch eine Vorlage für schwarzen Humor? Jedenfalls bewahren sich Ken Loachs Figuren einen Sarkasmus, der auch auf seinen Film als atmosphärische Leichtigkeit abfärbt, obwohl seine Aussichtslosigkeiten so schwer wiegen. Es geht hier ja um nichts weniger als die kühle Inkaufnahme eines neuen gesellschaftlichen Primitivismus, dem es gleichgültig ist, wie die Kosten für Miete, Strom, Nahrung und Gesundheit aufgebracht werden, Hauptsache, sie werden nicht von Arbeitslöhnen oder Steuern finanziert. Für alle aufgeweckten Liberalen, die in den Schattenseiten der Deregulierung nur das Darstellungsproblem sehen, muss dieser Film die reine Folter sein.

„The Navigators“. Regie: Ken Loach. Mit Dean Andrews, Thomas Craig, Joe Duttine, Juliet Bates, Angela Saville u. a., GB 2001, 93 Min