Ohne Rücksicht auf Realisierbarkeit

Voller Schwamm: Nach Nischen in der globalisierten Weltordnung forscht die Ausstellung „Eigene Systeme“ im Harburger Bahnhof

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Globalisierung ist längst zu einem Begriffs-Schwamm geworden, der alles aufsaugt. Die Löcher in diesem Schwamm ausfindig zu machen, war das Ziel der neu berufenen künstlerischen Leiterin des Harburger Kunstvereins Nina Möntmann, die mit Eigene Systeme eine vielversprechende Austellung zeigt. „Künstler haben die Möglichkeit, Systeme zu entwickeln ohne Rücksicht auf ihre Realisierbarkeit. Etwa subversive oder utopische. Anstatt dem Globalisierungsbegriff einfach einen Anti-Globalisierungsbegriff entgegenzusetzen, geht es darum, innerhalb globalisierter Bereiche Nischen auszuloten“, beschreibt Möntmann das Konzept.

Diese Entwürfe können und wollen natürlich nicht mit politischen Konzepten à la Attac oder Tobin-Steuer konkurrieren. Sie sind künstlerischer Ausdruck der Begriffsfindung, Denkanstöße. Besonders vier Beispiele in der Ausstellung machen die globalisierten Bereiche von Ökonomie, Kontrolle und Wissen, beziehungsweise deren Gegenbewegungen, sowie das Verhältnis von Natur und Stadt deutlich: Im Büro der Gesellschaft für besseres Leben, initiiert von der Mexikanerin Minerva Cuevas, kann sich jeder Besucher einen gültigen Studentenausweis ausstellen lassen (einschließlich Ermäßigungen für Kino- und Flugtickets): Eine eigene Ökonomie, die gängige Gesetze verletzt und neue Ungerechtigkeit erzeugt, ohne dass jemand dafür haftbar gemacht werden kann. Think global, act local!

Nils Norman dokumentiert in einer Fotoserie öffentliche Plätze, an denen mit unbequemen Sitzvorrichtungen und teilweise abstrusen Zäunen ohne sichtbares Machtdispositiv die Benutzung und der Aufenthalt in der Stadt kontrolliert werden. Obdachlose, die auf Bänken übernachten wollen, sind ausgeschlossen. Und die in einer Privatwohnung residierende Copenhagen Free University sucht in ihrem Beitrag zur Ausstellung freie Zugänge zur Bildung, sammelt und entwirft Konzepte zu sozialen Praktiken und zur Wissensvermittlung. Unter dem Stichwort „Manifesto“ steht in ihrem Wandplakat „ABZ“: „Our intention was to produce a power that refuses to become government.“

Für „Maximal Dazwischen – Urbane Leerstellen“ haben Jens Röhm und Kathrin Wildner „Stadtexperten“ zur Beschreibung und Funktion von städtischen Brachflächen befragt. Dabei ergab sich eine Spanne vom vergessenen Idyll bis zum wirtschaftlichen Zukunftsversprechen, die sie in Ton und Bild dokumentieren. Nicht an allen Arbeiten in der Harburger Ausstellung lässt sich die gleich intensive Theorieliebe festmachen. Aber dass der Schwamm mal kräftig ausgewrungen werden muss, zeichnet sich ab.

In ihrem kürzlich erschienen Buch Kunst als sozialer Raum zeigt Nina Möntmann an den Beispielen Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija und Renée Green fundiert und kritisch die Erweiterung des Kunstbegriffs in den 90er Jahren. Darauf angesprochen, ob die derart neuen Inhalte des White Cubes die Hemmschwelle zum Museumsraum für kunstfremdes Publikum senken würden, antwortet Möntmann: „Es ist die Frage, ob das das Ziel von Künstlern sein muss. Wenn sie sich intensiv mit bestimmten Themen auseinandersetzen, sind Zugeständnisse an einen gewissen Populismus fehl am Platz. Die Vermittlung ist sehr wichtig, aber sie ist Sache der Institutionen, der Kuratoren, nicht der Künstler.“ Angesichts des komplexen Theoriehintergrunds von Eigene Systeme wäre die Einlösung dieses Anspruchs allerdings nicht schlecht gewesen.

Di–So 13–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, 24. + 31.10., 19 Uhr: Veranstaltungsreihe „Prozessuale und kombinatorische X“, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hannoversche Str. 85; bis 3. NovemberNina Möntmann, Kunst als sozialer Raum, Verlag der Buchhandlung Walther König 2002, 211 S., 38 Euro