Gewollte Gefährdung

Freispruch für Zivildienstleistenden, der schwerstbehinderten Patienten in den Müll legte. Gericht: Opfer bestimmte das Tatgeschehen selbst

„Sie waren plötzlich in einer Situation, die Sie bei weitem überforderte“

von KAI VON APPEN

„Dass Ihr Verhalten falsch war, ist offenkundig“, redete der Vorsitzende Richter Egbert Walk gestern bei Verhandlungsende dem 22-jährigen Jörg R. noch einmal ins Gewissen. Dennoch sprach das Hamburger Schwurgericht den Zivildienstleistenden überraschend vom Vorwurf des Totschlags oder der fahrlässigen Tötung frei – und betrat damit juristisches Neuland. R. hatte am 22. Februar vorigen Jahres einen 28-jährigen Muskelschwund-Patienten auf dessen eindringlichen Wunsch in Plastiksäcke gehüllt, seinen Mund verklebt und ihn in einen Müllcontainer gelegt. „Sie haben sich naiv und vertrauensseelig überrumpeln lassen“, begründete Walk sein Urteil, „die Initiative ging aber eindeutig vom Geschädigten aus.“

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hatte das Gericht versucht, über die Motivationslage des Angeklagten zu diesem „tragischen Sachverhalt“ Klarheit zu bekommen. R. war damals kurzfristig die Betreuung des Schwerstbehinderten in der Zinnendorf-Stiftung in Eppendorf übertragen worden. „Sie waren überhaupt nicht auf diesen Patienten vorbereitet worden“, klagt Walk an. Der 28-Jährige war bis auf den Mund total gelähmt und musste wegen der verringerten Lungentätigkeit nachts ans Beatmungsgerät angeschlossen werden. Trotzdem galt der Patient als durchsetzungsfähig, da er sich artikulieren und über ein Spezialgerät mit dem Mund Computer bedienen konnte.

Schnell wurde der von Idealismus geprägte R. aber auch mit den Besonderheiten des Mannes konfrontiert. So verlangte der Patient mehrfach, dass man seinen Unterkörper in Plastiktüten einhülle, da ihn Plastik an der Haut sexuell stimuliere. Was R. nicht wusste: Der Patient hatte seinem Computer schon 1996 Suizid-Phantasien anvertraut: Er fühle sich wie „menschlicher Müll“ und wünsche sich, mal in einem Müllsack in einem Container zu landen, um so in die Verbrennungsanlage zu gelangen.

Am 22. Februar 2002 konfrontiert der Patient R. mit dem Wunsch, er solle ihn in einem Müllsack in den Container legen, etwas später werden ihn dann wie schon öfter jemand abholen. R. fragte zwar mehrfach nach, ob das stimme, schöpfte aber keinen echten Verdacht. „Ihr Verhalten war von dem Ziel geprägt, dem Patienten in jeder Form zu helfen“, ist sich Walk sicher. Auch für das Zukleben des Mundes brachte der Patient einen plausiblen Grund vor: Er könne besser atmen, wenn keine Luft aus dem Mund entweicht. Der Richter darüber zu R.: „Sie waren plötzlich in einer Situation, die Sie bei weitem überforderte“. Am nächsten Tag war der Patient tot. Offenbar hatte jemand einen Müllsack auf seinen Oberkörper geworfen, so dass die Atmung versagte.

Für das Gericht war der Angeklagte vor allem aus rechtlichen Gründen freizusprechen. Er habe an einer „einverständlichen Fremdgefährdung des Geschädigten mitgewirkt“. Diese sei einer „straflosen, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung des Geschädigten“ gleichzustellen. Für die Kammer ist letztlich entscheidend, wer das Tatgeschehen beherrschte – und das sei der Patient gewesen. Er habe seinen Tod entsprechend seiner Phantasien gewollt, so Walk zu Jörg R., „und Sie fühlten sich anschließend wie ein blöder Gehilfe“.