„Im Zustand völliger Erschöpfung“

Das Landgericht verhängt ein mildes Urteil gegen Christel N., die ihren autistischen Sohn umbrachte: zwei Jahre Freiheitsstrafe mit Bewährung. „Man kann nur allerhöchsten Respekt vor dieser Frau haben“, sagt der Vorsitzende Richter

„Frau N. hat ihren Sohn letztlich aus Liebe und Fürsorge getötet.“

Dem eigentlichen Wortsinn nach ist ein Geschehen nur dann wirklich „tragisch“ zu nennen, wenn ein Mensch „schuldlos schuldig“ geworden ist. Im Bremer Landgericht ist gestern eine solche Tragödie offenbar geworden: Wegen „Totschlags in einem minderschweren Fall“ verurteilte das Schwurgericht I die Mutter, die ihren 34-jährigen autistischen Sohn im April mit Medikamenten umgebracht hatte, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung. Der Vorsitzende Richter Harald Schmacke erteilte Christel N. die Weisung, auch die nächsten Monate im niedersächsischen Landeskrankenhaus Wehnen, wo N. derzeit untergebracht ist, zu verbringen und danach regelmäßig eine psychiatrische Ambulanz aufzusuchen.

„Jeder, der dieses Verfahren verfolgt hat, wird sich einer tiefen Erschütterung nicht haben erwehren können“, leitete der Richter seine eindrucksvolle Urteilsbegründung ein. Der Prozess habe sich von allem abgehoben, was das Schwurgericht normalerweise verhandele. Die Angeklagte habe ein sehr schweres Leben hinter sich, sagte Schmacke: „Man kann nur allerhöchsten Respekt vor dieser Frau haben“. Christel N.s Verhalten ihrem behinderten Sohn Stephan gegenüber sei von zwei Faktoren bestimmt gewesen: von „ungeheurer Mutterliebe“ und einem „ganz, ganz eisernen Willen“.

Die Tat habe sie in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit sowie der „völligen geistigen, seelischen und körperlichen Erschöpfung“ begangen. Christel N. habe ihrem Sohn, der nicht nur an Autismus, sondern auch an Bulimie, Epilepsie und heftiger Migräne litt und große Angst vor Pflegeheimen hatte, versprochen, ihn nie wieder alleine zu lassen. Als es ihr selbst dann immer schlechter ging und sie der Meinung war, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, habe sie befürchtet, Stephan bald nicht mehr versorgen können. So sei ein zermürbender Teufelskreislauf in Gang gekommen, sagte Schmacke, der ein ungewöhnliches Fazit zog: „Sie hat ihren Sohn letztlich aus Liebe und Fürsorge getötet.“

Zuvor hatte die Ärztliche Direktorin des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Wehnen, Marianne Becker-Emner, Christel N. erheblich verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Zur Tatzeit habe sie schon seit Monaten an einer „schweren depressiven Episode“ gelitten. Die Gutachterin wies darauf hin, dass die Angeklagte auf ein eigenes Leben verzichtet habe, der kranke Sohn sei zum einzigen Lebensinhalt geworden: Die Beziehung zwischen Mutter und Kind sei „symbiotisch“ gewesen.

Christel N. selbst sei nicht in der Lage gewesen, Symptome wie Schlafstörungen und Kopfschmerzen als depressiv einzustufen. Die nach außen selbstbewusst auftretende Frau habe das auch nicht wahr haben wollen. Anti-Depressiva, die ihr ein Arzt verschrieb, musste sie wegen Unverträglichkeit absetzen. Zudem sei sie der Meinung gewesen, es auch „ohne Chemie“ schaffen zu können. Im Oktober 2001 habe Christel N. dann einen Nervenzusammenbruch erlitten. Weihnachten reifte erstmals der Plan, zusammen mit ihrem Sohn zu sterben. Christel N. habe immer wieder Hilfe bei anderen gesucht, sagte Becker-Emner: „Doch die Signale, die sie setzte, sind nicht verstanden worden.“

Christel N. sei noch immer hochgradig selbstmordgefährdet, berichtete die Ärztin: Sie hadere damit, selbst noch am Leben zu sein und damit ihr Versprechen gegenüber Stephan gebrochen zu haben, „zusammen zu den Englein zu gehen“. Stephan, so glaube die Mutter, blicke vom Himmel herunter und warte auf sie. Markus Jox

Informationen über Pflege-Einrichtungen für Autisten gibt es im Internet unter www.autismus-bremen.de