Laufen ins Extreme

Beim Spartathlon, einem 245-km-Lauf von Athen nach Sparta, starten jährlich im Herbst rund 200 Laufverrückte aus aller Welt. Der Amberger Werner Selch war dieses Jahr einer von ihnen

Gesund sind solche Läufe nicht. Zu groß ist die Belastung für den Organismus

aus Sparta JÜRGEN MÜLLER

Die nahe gelegene Akropolis interessiert Werner Selch an diesem Freitagmorgen nicht. Der Polizist aus Amberg in der Oberpfalz hat sich zusammen mit rund 200 anderen Sportlern ein spektakuläres Abenteuer vorgenommen: den Spartathlon, einen 245-km-Lauf von Athen nach Sparta, in maximal 36 Stunden. Sie begeben sich dabei auf die Spuren des Boten Pheidippides, der 490 v. Chr. diese Strecke ge- laufen ist: Er wollte in Sparta Hilfe holen für den Kampf gegen die Perser, die dann in der Schlacht von Marathon besiegt wurden. Der 51-jährige Selch ist ein erfahrener Langstreckler, hat zig Marathons und viele Läufe über 100 km hinter sich. Aber vor seiner Spartathlon-Premiere hat er gehörigen Respekt: „Das größte Problem wird die Hitze. Daran sind schon viele gute Leute gescheitert.“

Punkt sieben Uhr fällt der Startschuss. Zunächst schlängeln sich die Läufer durch den Berufsverkehr von Athen. Danach wird ihnen ein besonderes Erlebnis zuteil: 20 km auf dem Standstreifen der Autobahn nach Korinth laufen, neben vorbeirasenden Autos und Lkw. Alle 3 bis 4 Kilometer stehen am Straßenrand Getränke bereit, außerdem Kartoffelchips, Erdnüsse, Powerriegel. An diesen Checkpoints wird kontrolliert, wer die Stelle innerhalb der vorgeschriebenen Zeit passiert. Kilometer 40 müssen die Läu- fer nach gut vier Stunden erreicht haben. Nachmittags: 30 Grad im Schatten und starker Gegenwind auf den nächsten 40 km entlang der Meeresküste.

Den ersten großen Verpflegungsposten nach 81 km, nahe Korinth, nutzen viele für eine ausgiebige Pause. Schon hier hat Werner Selch Magenprobleme, will wenig wissen vom angebotenen Essen: Reis und Nudeln, Brot und Kekse. Die Läufer tauschen Erfahrungen der ersten Stunden aus. Man kennt sich, die Ultra-Szene ist nicht besonders groß. Die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung, DUV, zählt zwar 1.500 Mitglieder, aber der Ultra-Bereich beginnt schon bei 50 km. Und bei solch extremen Läufen wie dem Spartathlon trifft sich nur der harte Kern. Schließlich erfüllt nicht jeder die Bedingung für diesen Trip durch Griechenland: 100 km müssen schon einmal unter 10,5 Stunden absolviert worden sein. „Leichtere“ Läufe haben weitaus mehr Teilnehmer, etwa der in Eisenach startende, 74 km lange Rennsteig-Lauf oder der 100-km-Nachtlauf im schweizerischen Biel mit jeweils etwa 1.500 Teilnehmern. Es gibt mehrtägige Etappenläufe durch die marokkanische Wüste und über die Alpen. Und zahlreiche 24- und 48-Stunden-Läufe. Das sind Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer einen bzw. zwei Tage lang auf einer 2 bis 3 km langen Runde traben, um möglichst viele Kilometer zu „fressen“. Der Weltrekord im 24-Stunden-Lauf liegt bei knapp über 300 km.

Dagegen müsste der Spartathlon – wegen der abwechslungs- reichen Strecke und des herrlichen Panoramas – eigentlich das Paradies sein. Wenn da nicht diese erbarmungslose Hitze wäre. Einigen setzt sie schon am ersten Tag zu sehr zu – sie steigen aus. Für manche bricht eine Welt zusammen, denn der Spartathlon ist ihr Saisonhöhepunkt, für den sie monatelang trainiert haben – wöchentlich 150 bis 200 Kilometer. Sie alle sind süchtig nach Laufen. Die Marathondistanz war ihnen irgendwann zu wenig. Die Läufe wurden immer länger. Und jetzt wollen sie in Griechenland fast die sechsfache Marathonstrecke zurücklegen.

Am Checkpoint bei Kilometer 100 verlangt Werner Selch ungeduldig nach Bier. Er leidet unter Flüssigkeitsmangel, weil er nichts mehr bei sich behalten kann: „Ich hab schon sechs Mal gekotzt, vertrag kein Wasser und keine Cola mehr. Hopfen beruhigt den Magen.“ Nach einer halben Dose schleppt sich der asketische Körper mit kurzen Schritten weiter. Noch hat er nicht mal die Hälfte der Strecke absolviert. Und vor ihm liegt noch der gefürchtete Sangas-Pass.

Allmählich wird es dunkel und kühl. Die meisten Läufer rüsten sich mit Jacken, langen Laufhosen und Taschenlampen aus – für den Lauf durch die Nacht. Nachts um eins trifft Selch bei Kilometer 140 ein. Der Checkpoint liegt direkt vor einer Gaststätte. Kinder sind noch unterwegs, klatschen jedem Ankömmling begeistert Beifall. Der Spartathlon ist wie ein Volksfest in den Dörfern entlang der Strecke. Der Amberger lässt sich völlig erschöpft in einen Stuhl fallen, starrt nur vor sich. Nach zehn Minuten Pause schnallt er sich wieder seine Stirnlampe um und läuft in die dunkle Nacht hinein.

Nach weiteren 20 km auf den hügeligen Straßen des Pelepon- nes erreicht er die Schlüsselstelle des Spartathlons, den 1.200 m hohen Berg Sangas, wo die Temperatur auf unangenehme fünf Grad gesunken ist. Auf den letzten Kilometern bis zur Bergspitze sind 800 Höhenmeter zu überwinden. Vielen, die sich bis hierhin durchgequält haben, wird der Sangas zum Verhängnis. Auch zwei erfahrenen deutschen Teilnehmern: Die 39-jährige Berlinerin Simone Stegmaier, Mitglied des Nationalteams, scheitert bei ihrer dritten Spartathlon-Teilnahme erneut. Beim Abstieg vom Berg bricht sie in Tränen aus – vor Erschöpfung und Angst. Angst vor der Geröllpiste, die wie ein steiler Skihang den Sangas hinunterführt. Unten am Berg gibt sie auf.

Auch ein 46-jähriger Hamburger Sportmediziner schleppt sich gerade noch über den Berg. Dann geht nichts mehr: „Ich war den Berg hoch wie runter kurz vor dem Kollaps“, erzählt er später. Gesund sind Läufe wie der Spartathlon nicht. Zu groß ist die Belastung für den Organismus. „Die größte Gefahr liegt im Flüssigkeitsdefizit. Wer zu wenig trinkt, riskiert einen Zusammenbruch“, warnt Dr. Rüdiger Reer vom Institut für Sportmedizin der Universität Hamburg. „Langfristig können orthopädische Schäden an Sehnen, Bändern und Gelenken auftreten.“

Dass beim Spartathlon wenig passiert, liegt vor allem daran, dass die Teilnehmer gut trainiert sind und mit solchen Extremsituationen umgehen können. Werner Selch erweist sich als äußerst zäh, meistert trotz Magenkrämpfen auch den Sangas und läuft wie in Trance weiter. Ein Bekannter von ihm wird noch bei Kilometer 202 aus dem Rennen genommen, weil er acht Minuten über dem Zeitlimit liegt. Der Amberger aber ist einer der 89 Läufer, die die 245 km rechtzeitig schaffen.

Am Samstagabend – nach 35 Stunden und 5 Minuten – kommt er in Sparta an, elf Stunden nach dem japanischen Sieger. Selch erhält die gleiche Prämie wie jeder andere, der „finisht“: eine Schale Wasser und einen Ölzweig auf sein Haupt. Dafür will er auch im nächsten Jahr wieder kommen.