Eine andere Liebesgeschichte

10. Preis des taz-Schreibwettbewerbs „Eros auf Reisen“

von NELE GRÜN

Der Tisch barst beinahe unter der Last von Ciantiflaschen und knusprigem Ciabatta, von Pastapfannen und Salatschüsseln, von Gemüsesoufflés, Käseplatten und opulenten Schalen mit Tiramisu und Früchten.

Lena griff nach der Grappaflasche und lächelte einem Dänen zu, gegen den sie heute morgen bei „Spielregeln für Alphatiere“ einen Seilwettbewerb gewonnen hatte. Sie verstand nicht viel von den italienischen Wortschwällen, die von rechts und links auf sie zuwogten, aber sie gehörte dazu. Diese Gewissheit beglückte sie so, dass sie sich für einige Sekunden zurücklehnen und die Augen schließen musste.

„Schläfst du schon?“, fragte ihr Tischnachbar, Tintus, der Salsalehrer, der außerdem den Segelkurs leitete und auch sonst viel im Team von „Anders reisen“ zu sagen hatte. Sie wedelte verneinend mit den Händen und rückte etwas näher an ihn heran. „Ich verstehe nur gerade nichts mehr.“

Umgehend goss er ihr vom Grappa nach. „Je mehr du säufst, desto mehr checkst du, und je mehr die saufen, desto schneller quasseln sie dich voll.“ Mitleidig verzog er das Gesicht. „Und desto mehr reden sie über Sex“, fügte er hinzu, während er eine herabgefallene Kirschblüte aus seinem Glas fischte.

In der Tat, er war nicht wie die anderen. Was für einen exotischen Klang das Wort Sex aus seinem Mund hatte. „Reden sie jetzt auch darüber?“, fragte Lena.

„Sie erzählen Witze, das heißt, gleich werden sie zum Thema kommen.“ Er nahm einen Schluck Rotwein und leckte sich die Lippen. „Wenn sie’s wenigstens machen würden, aber sie quatschen nur.“

Lena schluckte. Sie betrachtete seine Arme, die in der Dämmerung wie Gold schimmerten. Sie dachte auch an Sex. Wie er sie wohl anfassen würde? Vielleicht war er einer von denen, die es einem mit dem großen Zeh oder mit der Nase …

„Ich dagegen bin eher ein Schweiger“, nahm Tintus das Gespräch wieder auf.

Sein tiefschwarzer Bück ruhte auf ihr und schien ihr nur das eine zu sagen: dass er ein Mann war, der seine Augen sprechen ließ.

Frauen lieben Männer, die das Maul halten, las sie darin. Und: Ich lasse die Frauen kommen.

Wie von einer magischen Kraft getrieben, hob sich plötzlich ihre Hand und berührte seinen Arm. Er lächelte. Er schien nichts anderes erwartet zu haben.

Sie hörte sich etwas über die Schönheit seines Bizeps stammeln und dass sie deren Stärke bewundere. Ein Windhauch ließ die Zweige über ihnen schaukeln und trug das Aroma von Gras und Pinienharz heran.

Kaum hatte sie ihre Gedanken ausgesprochen, zog Tintus sie vom Stuhl. Er schob sie durch einen schmalen Weg, der den Schlossgarten mit dem Parkplatz verband. Nur eine altmodische Laterne über dem Eingangsportal erhellte den Hof und hüllte ihn in ein milchiges Licht, in dem die Konturen der Autos anthrazitfarben abzutauchen schienen. Tintus knöpfte ihr die Jeans auf. Vor lauter Überraschung war sie ihm dabei behilflich. Er drehte sie um und drückte sie über die Motorhaube eines roten Renaults mit der Aufschrift „Anders reisen“ in fünf verschiedenen Sprachen. Seine Hände kneteten ihren Hintern, sie fragte sich, ob das wirklich sie sei, die hier halb entkleidet über einer Karosserie hing, während Tintus’ heißes Schwert sich von hinten in sie hineingrub, ja, genau diese Worte gingen ihr durch den Kopf: Tintus’ heißes Schwert. Die Nacht war wie ein Traum, ihr Gesicht lag auf dem immer noch sonnenerwärmten Metall, sie starrte auf eine schwarze, mit jedem Stoß wankende Mauer aus Zypressen, und ganz allmählich, ganz von hinten, kroch die glühende Flut in ihr hoch und riss sie mit.

Im selben Moment explodierte Tintus. Halt suchend fuhren ihre Hände über den glatten Lack, während ihr Kopf in seinem Rhythmus auf- und niederflog. Sie vergaß, den Parkplatz im Auge zu halten. Nichts zählte mehr als sein Griff um ihre Hüften und die atemberaubende Dichte dieses Augenblicks.

Wie ein nasser Sack ließ er sich über sie fallen. Sein keuchender Atem streifte ihr Ohr, sein Gewicht presste sie gegen den Wagen.

„Tintus …“

„Halt jetzt bloß keine Reden“, murmelte er.

„Was?“ Sie öffnete mühsam die Augen. „Erleben für Individualisten“ stand unter ihr auf der Motorhaube, ebenfalls in fünf Sprachen.

Sie richteten sich auf, beide mit ihren Kleidern beschäftigt. Tintus fuhr ihr durchs Haar, das sich vom Hinterkopf gelöst hatte. „Schön“, lächelte er.

Ihr Herz machte einen Hüpfer. Tintus fand sie schön. Und jetzt? Er zündete sich eine Zigarette an, wie ein Mann sich danach eine Zigarette anzündet. Vor einem fast perfekten Vollmond mit messerscharfem Rand stieg eine Rauchsäule auf und verwehte zeichenhaft in einer Brise.

Als sie wenig später zu den anderen an den Tisch zurückkehrten, hatte die Diskussion an Heftigkeit verloren, der Rotwein die unterschiedlichen Meinungen neutralisiert und harmonisiert. An der Kopfseite saß der pensionierte Sprachprofessor von „Italienisch lernen in Italien“ und war damit beschäftigt, eine letzte Gabel aufgerollter Spagetti in den Mund zu hieven. Der Mond leuchtete den Park aus und warf sein Licht über die abgegessene Tafel und ein paar leere Stühle. In einem Winkel zwischen Buchsbäumen entdeckte Lena eine Frau, die sie von „Kräuterhexen unterwegs“ kannte, eng umschlungen mit dem Dänen. Er hielt ihr Gesicht in den Händen und beugte sich dicht über sie.

Ansonsten war alles wie zuvor. Nichts hatte sich verändert. Ein leises Wispem zog durch den Garten, als machte dort ein Geheimnis die Runde. Vom nahe gelegenen Dorfteich schallte das Quaken der balzenden Frösche herüber.

Sie drehte sich um. Tintus war verschwunden.