Waffenstillstand gab es nie

Seit August bombardieren britische und US-amerikanische Flugzeuge immer häufiger Munitionsdepots, Kasernen und Kommandozentralen im Irak

aus Genf ANDREAS ZUMACH

Wann beginnt eigentlich ein Krieg? Mit einem UNO-Beschluss? Den ersten Fernsehbildern? Oder einer Erklärung – „Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“ – wie am 1. September 1939?

Sicher ist nur, dass es nach dem Beschluss des US-Kongresses diesmal nicht so schnell gehen wird wie beim Golfkrieg von 1991. Zumindest nicht mit dem offiziellen Kriegsbeginn. Damals, am 12. Janaur 1991, ermächtigte der US-Kongress Präsident George Bush zum Krieg gegen Irak. Vier Tage später, in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar schlugen die ersten Cruise-Missiles in Bagdad ein. Via CNN war die ganze Welt live beim offiziellen Kriegsbeginn dabei. Tags zuvor war das Ultimatum abgelaufen, mit dem der UNO-Sicherheitsrat Bagdad aufgefordert hatte, seine Besatzungstruppen aus Kuwait abzuziehen.

In der aktuellen Irakkrise liegt ein Ultimatum bislang nicht vor. Doch für die Frage von Krieg oder Frieden hat die weitere Entwicklung in der UNO ohnehin immer weniger Bedeutung. Denn tatsächlich hat der Irakkrieg schon längst begonnen. Und er wird ständig eskaliert. Streng genommen hat der Golfkrieg von 1991 nie aufgehört. Der Waffenstillstand, den die Resolution 687 des Sicherheitsrates vom April 91 vorsieht, hat nie vollständig existiert. Seit Mai 1991 bombardieren US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge Bodenziele im Irak – ohne jede völkerrechtliche Legitimation. In manchen, längst nicht in allen von Washington und London behaupteten Fällen hat die irakische Luftabwehr die feindlichen Flugzeuge beschossen. Seit August dieses Jahres eskalieren diese britisch-amerikanischen Luftangriffe ständig. Sie finden immer häufiger statt; die Angriffe richten sich immer häufiger auch gegen Ziele außerhalb der beiden „Flugverbotszonen“ in Nord- und Südirak; immer häufiger werden nicht nur Luftabwehrstellungen, sondern auch andere Ziele bombardiert wie Munitionsdepots, Kasernen, Kommandozentralen und Kommunikationseinrichtungen. Außerdem greifen die britisch-amerikanischen Kampfbomber auch gezielt Brücken und andere zivile Infrastrukturanlagen an. Ende September wurde an zwei Tagen der Zivilflughafen von Basra bombardiert.

Wie Washington inzwischen bestätigte operieren seit Anfang August bis zu 1.800 Mitglieder amerikanischer Spezialeinheiten im Nordirak. Gemeinsam mit zeitweise bis zu 5.000 türkischen Truppen, die sich nach beendeten Operationen zumeist über die türkische Grenze zurückziehen, zerstören sie irakische Militäranlagen, errichten Basen und Munitionsdepots für einen eventuellen Bodenkrieg und trainieren irakische Kurden für den Kampf gegen das Regime in Bagdad. Im Westen Iraks sind israelische Spezialtrupps dabei, Abschussrampen für Scud-Raketen (mit denen Irak israelisches Territorium erreichen könnte) aufzuspüren und zu zerstören. Nach jüngsten Berichten, für die allerdings noch keine Bestätigung vorliegt, trainieren israelische und russische Ausbilder im Süden Iraks schiitische Kämpfer für den Krieg.

Es ist gut möglich, dass Präsident Bush von der gestrigen Kriegsermächtigung nie Gebrauch machen muss. Vielleicht reichen bereits die laufenden militärischen Maßnahmen und ihre weitere Eskalation aus, um eine Revolte der irakischen Armee und den Sturz von Saddam Hussein zu bewirken. Selbst wenn es zu einem offiziellen Krieg gegen Irak kommen sollte, wird der sehr viel kürzer sein, als der Golfkrieg vom Frühjahr 1991.

Schon damals wurden die konventionellen militärischen Kapazitäten Iraks vor allem in westlichen Medien maßlos übertrieben. Durch Krieg und UN-Embargo wurde die Armee weiter geschwächt. Nach der Niederlage im Golfkrieg ist die Kampfmoral der Streitkräfte Iraks (die im Golfkrieg mindestens 150.000 ihrer damals 545.000 Soldaten verloren) nach wie vor sehr eingeschränkt. Selbst aus den Eliteverbänden der republikanischen Garden, von denen Saddam Hussein in den letzten Wochen drei Divisionen zur Verteidigung der Hauptstadt um Bagdad zusammengezogen hat, gibt es Insiderberichte, wonach sich Hussein nicht mehr voll auf diese Truppen verlassen kann. Nach diesen Informationen, die sowohl vom BND als auch aus Führungskreisen des Irak stammen, ist die Bereitschaft der republikanischen Garden, sich dem „Häuserkampf um Bagdad“ zu opfern, nur noch gering.

In der politischen und militärischen Führung Iraks haben in den letzten Monaten mehrfach, unter Teilnahme Saddam Husseins, kontroverse Debatten stattgefunden über die eigene militärischen Fähigkeiten und die Aussichten, in einem Krieg gegen die USA zu bestehen. Bei diesen Debatten wurde der offiziellen Propaganda des Regimes deutlich widersprochen. Dem irakischen Geheimdienst und dem Verteidigungsministerium ist zudem sehr bewusst, dass die USA ihre militärischen Fähigkeiten – etwa bei Aufklärung und Munition – seit dem Golfkrieg von 1991 erheblich verbessert haben. Zudem kennt Bagdad die Berichte, wonach das Pentagon eine völlig neue elektromagnetische Waffe entwickelt hat, mit der sich das gesamte Kommunikationssystem Iraks auf einen Schlag ausschalten ließe.