Politkommissare auf Ecstasy

Dieter Dehm kann vor Kraft kaum noch laufen: Der neue starke Mann an Zimmers Seite hat im Hintergrund dafür gearbeitet, dass sie Parteichefin bleibt

aus Gera JENS KÖNIG

Und als alles entschieden ist, als der Parteitag Gabi Zimmers Leitantrag mit großer Mehrheit angenommen und der PDS-Vorsitzenden einen vernichtenden Sieg beschert hat, da beginnt vor den Augen der 428 Genossen Delegierten plötzlich die Verwandlung ihrer kleinen, trotzigen ostdeutschen Volkspartei in eine kommunistische Sekte. Winfried Wolf, ein Wortführer des orthodoxen Flügels, fordert die sofortige Erarbeitung eines sozialistischen Aktionsprogramms. In seiner standfesten Rede wird allerdings nicht ganz klar, ob er die Enteignung des Monopolkapitals gleich noch an diesem Samstagabend im Kultur- und Kongresszentrum von Gera vollziehen will.

Dieter Dehm, der neue starke Mann an Gabi Zimmers Seite, bremst Wolf mit seinem Hobbysozialismus sofort aus. „Mit Gabis Antrag ist alles gesagt, was gesagt werden muss“, ruft Dehm. Dehm kommt aus dem Showbusiness. Er hat Liedtexte geschrieben und Katharina Witt gemanagt. Er weiß, wie wichtig ein gut getimter Auftritt ist. Jetzt nur nicht überziehen und Gabis Sieg gefährden, denkt er sich. Also lässt Dehm den Parteitag Wolfs Antrag abschmettern.

Kollektive Trance

Dehm kann vor Kraft kaum noch laufen. Er hat im Hintergrund dafür gearbeitet, dass Zimmer Parteichefin bleibt. Parteichefin von seinen Gnaden. Jetzt sind seine Augen weit aufgerissen. Er trägt eine schwarze Lederjacke. Er sieht aus wie ein Politkommissar auf Ecstasy.

Zwei Stunden nach der Nummer mit dem Sofortsozialismus bewirbt sich Dehm wieder als stellvertretender PDS-Vorsitzender. In seiner Vorstellungsrede fordert er, im neuen Parteiprogramm die Verstaatlichung der Banken festzuschreiben. Das ist Dehms Lieblingsthema. Seit fünf Jahren predigt er es. In der PDS-Führung haben sie Dehm bisher dafür ausgelacht. Stamokap-Schwachsinn, haben sie seine Idee genannt. Wenn Dehm jetzt wollte, könnte sein Traum hier in Gera sofort Wirklichkeit werden. Der Parteitag ist längst in eine kollektive Trance gefallen. Hier wird alles durchgewinkt, was den Sozialismus ein Stück näher bringt.

Die PDS-Reformer haben sich zu diesem Zeitpunkt von ihrer Partei innerlich verabschiedet. Sie haben an diesem Tag nicht einen einzigen ihrer Anträge durchbekommen und nicht einen ihrer Kandidaten. Sie schütteln fassungslos den Kopf, weinen oder laufen mit zynischen Sprüchen durch den Saal. Dietmar Bartsch, der bis vor zwei Stunden noch dachte, Parteichef werden zu können, wird von einem Journalisten gefragt, ob heute Abend noch mit der Verhaftung der ersten Genossen zu rechnen sei. „Nee, nee“, sagt Bartsch, „Gefangene werden hier nicht mehr gemacht.“

Gabi Zimmer könnte Verhaftungen veranlassen. Die Macht dazu hat sie jetzt. Der Parteitag liegt ihr zu Füßen. Zwei Drittel der Delegierten haben für ihren Leitantrag und ihre Idee von der PDS als „gestaltender Opposition“ gestimmt. Siebzig Prozent der Genossen haben die alte Parteichefin auch zur neuen Vorsitzenden gewählt. Aber Zimmer will keine Rache. Sie will nur Genugtuung.

Sie will ihren Triumph genießen. Zwei Jahre lang, seit ihrer Wahl zur PDS-Vorsitzenden, hat sie sich quälen müssen. Von den Medien niedergemacht und von den eigenen Leuten im Vorstand bekämpft. Sie habe keine Ahnung, hieß es, keine Ausstrahlung, keine politische Idee. Kurz vor Gera hat keiner mehr einen Pfifferling für sie gegeben. Fast stündlich schwand während des offenen Machtkampfes in der PDS-Führung ihr Rückhalt in der Partei. Selbst Hans Modrow, der Ehrenvorsitzende und einer ihrer größten Förderer, sagte ihr unter vier Augen, dass er an ihren Führungsqualitäten zweifle.

Aber jetzt hat sie alles gewonnen. Wie soll sie da sehen können, dass sie alles verloren hat.

Als das Zimmer-Lager nach seinem Sieg in kollektiven Größenwahn verfällt und den geschlagenen Reformern sogar eine Auszeit verweigert, geht die Parteichefin ans Mikrofon und bittet höflich darum, den Verlierern doch ihren Wunsch zu erfüllen. „Ich will weiter mit ihnen zusammenarbeiten“, sagt sie. „Ich habe Respekt und Achtung vor ihnen.“ Dann fügt sie bitterernst hinzu: „Ich erwarte jetzt aber auch Respekt und Achtung mir gegenüber.“

Am Samstagmittag, als sie sich kurz vor ihrer Rede von ihrem Platz erhebt und zur Bühne geht, ahnt Gabi Zimmer noch nicht, dass sie es sich am Abend wird leisten können, so großzügig, so demütigend mit ihren Widersachern umzuspringen. Aber schon nach ein paar Sekunden, als sie oben auf der Bühne steht, ahnt sie, dass es ein guter Tag für sie werden wird. Der Saal klatscht und johlt, noch bevor sie auch nur ein einziges Wort gesagt hat. In anderen Parteien wäre eine so schwache Chefin zum Untergang verurteilt. In der PDS finden sie die kleine, tapfere Frau sympathisch. Gabi Zimmer ist die Vorsitzende der Herzen.

Die Stunde der Orthodoxen

Diesen Vorschuss gibt sie zurück. Sie wärmt die Herzen. Sie hält ihre beste Rede, seit sie PDS-Chefin ist. Sie erklärt zum ersten Mal, was genau sie mit ihrem Mitte-unten-Bündnis meint, das die PDS gemeinsam mit den außerparlamentarischen Bewegungen bilden soll. Sie greift ihre innerparteilichen Gegner offen an. Und sie wird dabei sogar ein bisschen demagogisch.

Eine Stunde Stakkato. Über die Krise der PDS und ihrer Führung, über die Anpassung der Sozialisten an den verhassten Parteienstaat und über die Aufweichung von Parteitagsbeschlüssen. Zimmer benennt das angebliche Grunddilemma der PDS: „Verstehen wir uns als potenzielle Koalitionspartnerin von Rosa-Grün, reduzieren wir uns dabei selbst auf ein ostdeutsches sozialdemokratisches Projekt, oder wollen wir als bundesweite linke, sozialistische Partei zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen?“ Und: „Handeln wir anders als alle anderen Parteien oder verwalten wir lediglich Sachzwänge?“ Den Berliner Genossen wirft sie im Vorbeigehen vor, Sparen allein reiche als Regierungsprogramm nicht aus. Projekte der PDS für die Zukunft? Schweigen im Walde.

Die Dehms, Wolfs und Wagenknechts, alle Orthodoxen und Traditionalisten der Partei haben verstanden. Sie haben Zimmer sogar besser verstanden, als sie sich selbst. Jetzt schlägt ihre Stunde. Am Sonntag wählen sie sich ungestört in die Führungspositionen der Partei. Dritt- und viertklassige Leute drängeln sich vorm Mikrofon. Es gilt nur noch das alte Lenin’sche Motto: Auch eine Köchin kann den Staat regieren. Gabi Zimmer sitzt in der ersten Reihe und lächelt.