Celan umberechnet

Am Donnerstag liest der Lyriker Marcel Beyer in Bremen. Beeindruckend: seine harte, sehr klare Sprache

„Reste von Autoreifen, Decken, Mäntel / abgefahrene Zungen auf der / Standspur. Matsch und Schnee knietief // um die Planken, kaum ein Geräusch, ich / kann mich an nichts erinnern.“ So beginnt eine „Fünf Zeilen“ überschriebene Abteilung im neuen Lyrikband des 1965 geborenen Schriftstellers Marcel Beyer. „Erdkunde“ ist der Titel des Bandes. Das ist durchaus programmatisch zu verstehen. In klaren, manchmal fast mitleidlos knappen Sätzen erzählt Beyer, den es vor Jahren von Köln nach Dresden verschlug, von der Welt. „… streiche Land / mit dem Finger auf der / Karte“, heißt es da.

Dabei sind Orte und Räume, die Beyers Lyrik durchmisst, relativ klar zuzuordnen. Wie‘s im vorangegangenen Band „Falsches Futter“ viel um Wien ging, bereisen die Zeilen diesmal den Osten Europas. Tschechien, Kaliningrad, Polen, Estland. Dabei entsteht eine Art psycholiterarischer Topografie. Keine Reisebeschreibungen sind das, und schon gar kein Diaabend in Versform. „So dunkel ist das nicht, ich muß nur länger hingucken, weil / ich ein Westkind bin, weil ich von Pferden nichts / verstehe und kein Russisch kann. Doch wenn: Vielleicht // gäbe es ein paar Stellen, die mich an mehr erinnern, als ich will.“

Immer wieder wird eine westdeutsche Kindheit zum gegenwärtigen Beobachtungsstandpunkt in Beziehung gesetzt. Das verhindert Anekdotisches. Das lässt Beyers Lyrik an ausgetretenen Pfaden souverän vorübergehen. Nirgends Anflüge von „Originalität“ wegen der weitgehend unbeschrittenen Wege. „Exotisches“ kommt nur vor, wenn es die in Blick und Sprache genommene Situation selbst produziert.

Was ist das für eine Kindheit, auf die da immer wieder angespielt wird, die sich immer wieder - unwillkürlich, unangenehm auch - in den Blick schiebt? Sie ist idealtypisch und persönlich zugleich. Sie wird konstruiert und rekonstruiert. Und sie hebt sich in Anklängen, Ahnungen, Erinnerungs- und Sprachpartikeln wohltuend ab vom „ach wie lustig waren doch die 60er, 70er, 80er“-Gestus, mit dem jüngere Prosa derzeit so oft wie nervig aufwartet. Hier kommt nochmal die Titel gebende „Erdkunde“ ins Spiel: Beyer hat, wenn man etwaige Vorbilder denn bemühen will, eines bei Celan gelernt.

Man mag Beyers Gedichte auch als Versuch lesen, Celans Ver- und Bearbeitung topografischer, geologischer und biologischer Fachsprache, auf heutige (literarische wie gesellschaftliche) Verhältnisse umzubrechen. Viel Holz, Erde, Gräser. Viel Gelände. Stets weit mehr als Landschaftsbeschreibung. Eher ein Versuch darüber, wie Räume, Zeiten und Biografien zusammenzudenken sind. „Ich / bin zehn. ich lasse Vogelfutter / keimen auf der Fensterbank, die // Blumenerde, faules Wasser, Kalk / und Schleim. Ich schlafe nicht. / Ich sitze da: westdeutscher / Tierfilm, Frühzeit, Kinderstunde.“ Beyers Lyrik ist nie geschwätzig. Sie ist hart, kalt mitunter. Kurz: Diese „Erdkunde“ beeindruckt.

Tim Schomacker

Marcel Beyer liest am Donnerstag, 17.10., um 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13, aus „Erdkunde“