Singende Republikflüchtlinge

Franz Schuberts „Winterreise“ ist eine dramatische Komposition. Auch als dramatisierter Liederzyklus mit politischer Ausrichtung packt er die Zuschauer in der Bremer Shakespeare Company

„Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh‘.“ Ist das „politisch“? Ja. Wenn Liebe für Freiheit steht – die will man ja gern verstetigt sehen. Und wenn die Welt „so trübe“ ist, „der Weg gehüllt in Schnee“? Dann ist die (Französische) Revolution gerade gescheitert. Insofern kann man Schuberts „Winterreise“ (komponiert 1827 nach einem Text von Wilhelm Müller) durchaus als politische Parabel verstehen.

In der „Szenischen Interpretation“ von Jochen Biganzoli an der Bremer Shakespeare Company sieht das so aus: Zwei Männer sitzen vor Tastaturen (Schreibmaschine und Flügel), und die Grundannahme ist: Beide tun das selbe – den brennenden Wunsch nach Freiheit ausdrücken. Müller (Erik Roßbander) schreibt seinen Text über „Gedankenfreiheit“, Schubert (Bjørn Waag) singt: „Ich bin zuende mit all‘ meinen Träumen“.

Biganzoli erhebt die politische Doppelbödigkeit des Zyklus zu dessen eigentlichem Inhalt: Er lässt Dichter und Komponist als DDR-Oppositionelle aufeinander treffen. In einem der zugemauerten Ostbahnhöfe, durch den die West-U-Bahn durchrauscht, wartet „Republikflüchtling“ Müller auf die Gelegenheit zum „Rübermachen“. Seine Schreibmaschine steht auf einer Harlem-Tonne, als Sitz dient ihm der Benzinkanister, der später beim Bau von Molotow-Cocktails zum Einsatz kommt. In dieser Clochard-Atmosphäre also entdecken sich Dichter und Komponist als „gleichgestimmte Seelen“.

Nun bietet ein Liederzyklus ja nicht gerade unbegrenzte Möglichkeiten der Dramatisierung oder szenischen Umsetzung (ein jüngeres Beispiel ist John Neumeiers „Winterreise“-Ballett an der Hamburgischen Staatsoper). Das mag Biganzoli dazu verführt haben, gelegentlich um so plakativere Einfälle zu verwenden: etwa wenn sich die beiden Protagonisten gegenseitig mit Narrenhütchen krönen oder – auf der Ebene des Plots – der finale Selbstmord des Dichters dadurch besondere Zusatz-Dramatik erhalten soll, dass ihm die ersehnte Freiheit (in Gestalt des Mauerfalls) unmittelbar auf dem Fuße folgt.

Den dramatisch schwereren Part hat zweifellos Roßbander. Wo er von der Textlosigkeit befreit ist und die Stummfilmhafte pantomimische Ebene verlassen kann – etwa, wenn er selbst einzelne Strophen singt – wirkt er sehr authentisch. Das spezielle DDR-Setting ist insofern spannend, als beide Darsteller – der Schauspieler Roßbander und Sänger Johannes Schwärsky, der krankheitsbedingt allerdings erst im November zum Einsatz kommt – aus der ehemaligen DDR kommen. Rossbander hat, zusammen mit Heike Neugebauer, die Bühnenbild und Kostüme entworfen hat, eine lange Ausreise-Auseinandersetzung hinter sich.

Bjørn Waag, kurzfristig eingesprungen, ist als Fischer-Dieskau-Schüler ist er ein versierter Liedinterpret. Allerdings hat auch ihn die Kälte nicht ganz unberührt gelassen – so konnte er eher mit Wagner‘schem Volumen als feinen Piano-Tönen glänzen. Es war aber schon erstaunlich, wie schnell Waag sich in die Inszenierung eingefunden hat, wie selten sich seine Haltung in opernhafter Attitüde versteifte. Übrigens trägt auch Stephan Wehr am Flügel auf rein musikalische Art sehr viel zur Plastitzität des Geschehens bei. HB

Nächste Aufführung: 23. Oktober (noch mit Bjørn Waag). Danach 8. und 14. November sowie 4. Dezember