Romantisch in Form

Das gute Gewissen des Jazz im Tempodrom: Der Saxofonist Sonny Rollins zeigte sich bei seinem ersten Berliner Konzert seit 1974 wieder einmal als Meister seiner Klasse

Als Sonny Rollins das letzte Mal 1974 mit dem Dudelsackspieler Rufus Harley in Berlin war, wurde er vehement von der Bühne gebuht. Fortan kehrte er der Stadt eingeschnappt den Rücken. Die Tournee mit Rufus Harley ist auf der CD „The Cutting Edge“ festgehalten, und noch heute wirkt es beim Hören dieses Albums höchst gewöhnungsbedürftig, wie Sonny Rollins einen Dudelsack als Soloinstrument in den Jazz integriert. Doch das ist von jeher typisch gewesen für Rollins: Immer wieder hat er ungewöhnliches Material in den Jazz eingebracht und auch mit gesellschaftspolitisch provozierenden Titeln unbequeme Meinungen vertreten.

Sonny Rollins, das gute Gewissen des Jazz. Auch an diesem Abend im Tempodrom stellt er sich auf die Bühne und beschwört seine Zuhörer mit dem von ihm 1998 veröffentlichten Stück „Global Warming“, die Erde sauber zu halten und die Umwelt zu schützen.

Vor zwei Jahren feierte Rollins seinen siebzigsten Geburtstag. Als 19-Jähriger hatte er einst in Harlem angefangen. Nach dem Tod von Charlie Parker, so hieß es, sei „der Thron frei“ gewesen, und in Rollins sah man den nächsten Neuerer des Saxofonstils. In der Tradition von Lester Young, Coleman Hawkins und dem von Parker und Gillespie entwickelten Bebop entwarf er kraftvolle, komplexe und trotzdem tief und voll klingende Melodielinien. Romantische Improvisationsbögen mit ironischen Brechungen und einer dichten Folge von eingewebten Zitaten aus Spirituals und afrokaribischen Elementen.

Sonny Rollins galt als der Gegenspieler zu Coltrane, der eine neue Spiritualität in den Jazz brachte, obwohl er sich selbst nie in Konkurrenz sah. Nach verschiedenen „Sabbaticals“, musikalischen Auszeiten der Neuorientierung, wandte er sich in den Sechzigerjahren, inspiriert von Ornette Coleman, dem freieren Spiel zu. Bald aber stellte er zunehmend seine Soli in den Vordergrund und umgab sich mit Musikern, die seinen Status nicht infrage stellen konnten. Inzwischen nimmt er sich mit Gagenforderungen von bis zu 50.000 Dollar die Freiheit, nicht ständig auftreten zu müssen.

Sein lang erwarteter Auftritt in Berlin verläuft unerwartet unspektakulär. Während er in der Regel mit Bandana und auffälliger Kleidung seinen extravaganten Stil pflegt, gibt er sich an diesem Abend sportlich elegant: mit schwarzem Anzug, schwarzer Sonnenbrille, rotem T-Shirt und weißem Saxofongurt.

Das Tempodrom ist nur zur Hälfte gefüllt, aber Rollins wird begeistert begrüßt. Er hingegen sagt lediglich, wie schön es sei, mal wieder in Berlin zu sein. Dann spielt er sein festgelegtes Programm, das er zum Beispiel einige Tage zuvor schon in New York gespielt hat, wie man in Gary Giddins Kolumne „Weatherbird“ in der aktuellen Ausgabe der New Yorker Stadtzeitung Village Voice nachlesen kann.

Während Giddins ihn jedoch nach wie vor zum großartigsten Musiker aller Zeiten stilisiert, bleibt das musikalische Gesamtbild fade. Die Musiker verblassen neben Rollins, der sein nach wie vor kraftvolles Spiel perfekt zu inszenieren weiß und bis zu zwanzig Minuten am Stück mit Hilfe von Zirkularatmung spielt, ohne einmal abzusetzen.

Er hinterlässt das schale Gefühl von einer Form, der irgendwie der Inhalt abhanden gekommen ist. MAXI SICKERT