MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN
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VON SUSANNE MESSMER

Im Bett

Philippe Djian: „Schwarze Tage, weiße Nächte“. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Diogenes, Zürich 2002, 420 S., 21,90 €

Manchmal ist es tröstlich, wenn man ein neues Buch eines Lieblingsautors in die Hände bekommt. Ja, hier kennt man sich aus, das ist was für den Spaß. Was soll man auch sonst von Philippe Djians elftem Roman in nur zwanzig Jahren erwarten? Und außerdem: Wie herrlich peinlich berührt es einen doch, wenn man daran denkt, wie man als Teenager sein erstes Buch, sein berühmtes „Betty Blue“, verschlang – diese romantische Liebe eines Schriftstellers zu seiner verrückten Kindfrau. Ein neuer Djian also? Genau das richtige fürs Bett, wo einem nichts peinlich genug sein kann, im Gegenteil, je peinlicher, desto besser stehen die Chancen für eine durchlesene Nacht.

Mal sehen: Francis, ein abgehalfterter Schriftsteller um die fünfzig, kommt über den Tod seiner geliebten Frau Edith nicht hinweg. In seinen Träumen fordert Edith Francis dazu auf, ein pornografisches Buch zu schreiben. Jetzt geht es so richtig los: Eine Sexszene hetzt die andere, das Buch wird immer vulgärer, sexistischer und alberner. Auf dem Höhepunkt des Romans vergrößern sich in einer Begegnung von Francis und seiner Geliebten plötzlich alle Körperteile der beiden – bis schließlich, man höre und staune, auch seine Nase immer länger wird.

Francis’ Freund und Kollege Patrick dagegen kann den Sex nicht leben, wird aber umgarnt wie ein Popstar, weil er so gut über Sex schreibt: „Schwarze Tage, weiße Nächte“ ist die Travestie einer neuen französische Kritik an der sexuellen Libertinage und ihrem Leistungsdenken, ein Angriff auf Michel Houellebecq und Frédéric Beigbeder, diese „Muttersöhnchen“ und „sexuell frustrierten Miesmacher“, wie Francis einmal schimpft – es ist aber auch eine unterhaltsame Karikatur der Generation Djians selbst. „Es war meine einzige Möglichkeit, mich an die Welt zu klammern“, sagt Francis einmal und nimmt damit den Lebenshunger auf den Arm, den Djians Figuren bislang ausmachten. Deren Wirklichkeitssucht ist ein Produkt der Fantasie und Djians neuer Roman eine Hymne auf dieselbe, auf die Macht der Einbildungskraft, die es erlaubt, Zeiten der Leere und großer Trauer zu überspringen.

Dein Highway

Martin Amis: „Das Rachel-Tagebuch“. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Fischer TB, Frankfurt a. M. 2002, 285 S., 8,90 €

In Philippe Djians neuem Roman schlägt Francis einmal ein Buch von Martin Amis mit der Bemerkung zu, Amis sei der letzte große Schriftsteller dieses Jahrhunderts.

Philippe Djian hat mit seinem Kollegen eines gemeinsam: Beide sind Jahrgang 1949, beiden wurden in den Achtzigerjahren der Ruf schonungsloser Chronisten zuteil, beide hatten damals ihre Hochphase und haben inzwischen so viel geschrieben, dass keiner mehr an neue Themen glaubt. Grund genug, sich mit Martin Amis’ allererstem Roman, „Das Rachel-Tagebuch“, ins Bett oder einen anderen einsamen Ort zurückzuziehen – diesem zünftigen Adoleszenzroman, der Amis 1973 in England berühmt machte und rätselhafterweise erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Der Ich-Erzähler, ein Halbstarker mit dem unwahrscheinlichen Namen Charles Highway, bricht von zu Hause auf, weiß aber nicht richtig, wohin. Er ist ein Pubertierender der allernettesten Sorte, findet sonnengebräunte Amerikaner genauso blöd wie französische Filme, ist nicht halb so orgasmusfähig wie seine Bettpartnerinnen, er hat keine Lust zu arbeiten, und wenn er mal nicht den ganzen Tag mit seinen Pickeln und Geschlechtskrankheiten im Bad verbringt, schreibt er in sein Tagebuch. Kurz: Charles Highway ist eine Identifikationsfigur, ein Junge, in den man sich als Teenager verliebt hätte. Kraft seiner Fantasie, die sich die Welt zurechtzubiegen versucht, verliebt er sich in ein Mädchen, von dem er nichts weiß, außer dass sie aus besseren Verhältnissen stammt. Am Ende entpuppt sich Rachel als ziemlich hohle Nuss.

Alles wie gehabt, ist man schon versucht zu denken, während man sich über die narzisstische und besserwisserische Art des Ich-Erzählers freut – bis einem einfällt, dass dies aufgeschrieben wurde, lange bevor es in Mode kam. Man fragt sich, was das eigentlich für eine Zeit war, Anfang der Siebzigerjahre, als 68 vorbei war, aber Punk noch nicht losging. Gab es wirklich nicht mehr als die Pubs, wo man Tischfußball und Darts spielen musste, um nicht von den anderen Kneipengästen verprügelt zu werden? Und hätte die Klassengesellschaft in England nicht damals schon viel maroder sein müssen?

Am Abgrund

Paul Bowles: „Gesang der Insekten“. Aus dem Amerikanischen von Pociao. Goldmann, München 2002. 251 S., 23,90 €

Paul Bowles’ letzter Roman „Gesang der Insekten“ erschien 1966 in Amerika, 1988 zum ersten Mal auf Deutsch und findet sich jetzt noch einmal in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke. Wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht aufhören darin zu lesen.

Bowles, 1910 geboren, gehörte der Lost Generation nach dem Ersten Weltkrieg an, der aber anders als viele seiner Zeitgenossen nichts mehr zu reparieren gedachte. Während Ernest Hemingway tapfere Zivilisationskritiker schilderte, die ihre verlorene Männlichkeit durch Sportsgeist und Durchhaltevermögen zu kompensieren suchten, bricht Bowles seinen Reisenden ihr ohnehin brüchiges zivilisatorisches Korsett mit einem lauten Knirschgeräusch entzwei.

So auch das von Taylor und Day Slay, einem Arzt in den Sechzigern, und seiner schönen Gattin, die ebenso gut seine Enkelin sein könnte. Die Slays unternehmen eine Reise nach Südamerika. Hier wird Day Zeugin eines Mordes, den sie ihrem Mann verschweigt – ebenso wie dieser ihr anschließend verheimlicht, dass er in der Zeitung von dem Mord gelesen hat. Ihre gegenseitige Rücksichtnahme hat mehr mit Misstrauen zu tun als mit Liebe: Als ihnen der Mörder näher kommt, können sie sich nicht verbünden. Die Hitze, die Feuchtigkeit und der Schmutz, die lärmenden Frösche und Insekten, die „zerbröckelnde Landschaft“, die Schlingpflanzen des Dschungels und seine „chaotisch wuchernde Vegetation“ – all das wird so plastisch beschrieben, dass man sich selbst plötzlich im Urwald wähnt. Trotzdem ist ihre Reise keine Konfrontation mit der Fremde, sondern eine Reise ins Ich – ein Sprung in den Abgrund.

Auf der Schwelle

Banana Yoshimoto: „Sly“. Aus dem Japanischen von Anita Brockmann. Diogenes, Zürich 2002, 162 S., 14,90 €

Endlich wieder eine neue Banana Yoshimoto. Das wurde Zeit. Bücher von Banana Yoshimoto kann es gar nicht genug geben, und wären sie auch noch so schlecht. Was nicht der Fall ist: Durch ihren neuen, bedauerlich kurzen und angenehm unaufdringlichen Roman „Sly“ fällt man hindurch, so schnell, dass man sofort das Nächste von ihr lesen will. Kiyose erfährt eines Tages, dass ihr bester Freund und ehemaliger Geliebter Takashi HIV-positiv ist. Zusammen mit Hideo, dem Barbesitzer, mit dem Takashi nach ihr zusammen war, beschließen die drei, eine Reise nach Ägypten zu unternehmen. Eine seltsam wattierte Zeit der Ungewissheit, des Stillstands bricht an: Kiyose und Hideo fürchten, sich bei Takashi angesteckt zu haben, holen die Ergebnisse ihrer eigenen Aids-Tests aber nicht ab. Es scheint gar nicht mehr wichtig, und auch damit, dass Takashi vermutlich vor ihnen sterben wird, gehen sie auch nach dem ersten Schreck erstaunlich gelassen um.

Das Reisen stellt in Banana Yoshimotos neuem Roman „Sly“ nichts dar, was scheinbare Sicherheiten bedrohen könnte. Ägypten, die Touristenfalle, bietet nichts, was man nicht erwarten würde, es ist zwar beeindruckend bunt, aber nichtsdestotrotz eine ziemlich nichtssagende Kulisse, an der sich ihre drei Figuren einfach vorübertreiben lassen: Kiyose, Takashi und Hideo wollen flüchten und wie auf Klassenfahrt noch stärker zu dem werden, was sie sowieso schon sind: ein Freundeskreis, der Geborgenheit verspricht außerhalb von Konventionen wie Familie oder der in Japan noch immer sehr wichtigen Zugehörigkeit zu einem Betrieb.

Yoshimotos Figuren haben sich längst entschieden, auf der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden zu verharren und so provisorisch weiterzuleben wie bisher. Dass einer der beiden Hauptfiguren homosexuell und eine andere bisexuell ist, ist nicht mehr so wichtig wie früher, als es bei Yoshimoto noch um Inzest und andere sexuelle Ambiguitäten ging. Das Thema des neuen Buches ist auch nicht die Zerrissenheit zwischen Popkultur und Tradition, sondern der Schock des Verlusts, der nicht mehr so groß ist, wenn man sich in dieser Zerrissenheit eingerichtet hat. Menschen sterben. Man kann sich damit abfinden, wenn man sie richtig geliebt hat.

Ins Buch

Haruki Murakami: „Sputnik Sweetheart“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag 2002, 234 S., 19,90 €

Alle Bücher von Haruki Murakami kommen mit wenig Personal aus. Meistens handelt es sich um eine, zwei oder drei Figuren, die man lieb gewinnt und auch nach der Lektüre nicht wieder vergisst. Sie sind ziemlich einsam und verunsichert und man möchte am liebsten ins Buch schlüpfen und sie retten, wenn sie plötzlich in diese typischen Ausnahmesituationen geraten. Auch Murakamis neuer Roman „Sputnik Sweetheart“, der vor drei Jahren in Japan erschienen ist, erzählt eigentlich wieder nur so eine kleine Liebesgeschichte, die auf einmal entgleitet und auf unheimliche Art haften bleibt.

Sumire, eine Außenseiterin, die einfach nur ihren ersten Roman schreiben will, verliebt sich ausgerechnet in die fünfzehn Jahre ältere und aalglatte Geschäftsfrau Miu. Sie hört auf zu schreiben, und ihre Suche nach einer Individualität außerhalb gesellschaftlicher Funktionen scheint gescheitert. Darüber ist der Mann, der sie liebt und die Geschichte von Sumire und Miu erzählt, untröstlich. Er, der wie alle männlichen Helden Murakamis schwächer ist und seine Interessen einfach nicht durchsetzten kann, gerät in ein Gefühlsvakuum. Und dann verschwindet Sumire auch noch ganz aus seinem Leben – auf einer griechischen Insel, auf der sie mit Miu Ferien machen wollte.

Auf seiner Suche nach Sumire stellt er fest, dass Miu sich nicht nur symbolisch in eine vernünftige, berufliche und eine sinnliche, private spalten musste, sondern ganz „in echt“ in zwei Teile zerfallen ist. Und andersherum verschwindet Sumire nicht, indem sie stirbt, sie verschwindet kraft ihrer Fantasie – indem sie das, was man eine Metapher nennen würde, beim Wort nimmt. So wie Murakami seine Helden auf dem Boden eines Brunnens andere Welten betreten ließ, so ist auch für Sumire die andere Seite keine abstrakte Idee, sondern ein realer Rest: eine Wirklichkeit unter anderen, die man betreten kann, wenn man es nur will. Damit müssen sich nicht nur die arrangieren, die Sumire lieben, sondern auch die, die am liebsten in Haruki Murakamis Büchern verschwinden und die Welt, wie sie ist, draußen lassen würden.