Die linke Qual der Wahl

Wird das Schicksal der Republik im Herzen Berlins entschieden, fragte die taz und lud die linken Direktkandidaten von Friedrichshain-Kreuzberg, Grygier, Matthae und Ströbele, aufs Podium

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Sicher sein konnte am Montagabend nur einer. Und dieser eine war sicher. Andreas Matthae, SPD-Kandidat im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, saß ganz lässig auf dem Podium und wusste bereits, was er am 23. Spetember 2002 machen wird. „Da werde ich ausschlafen, und wenn das Telefon klingelt, gehe ich nicht ran“, antwortete er auf die Frage, ob er nach der Wahl zum Opportunisten mutieren werde. Nö, ganz cool wird er bleiben und weiter „Nein“ zu jedem Kriegseinsatz gegen den Irak sagen, „denn Ehrlichkeit und insbesondere Glaubwürdigkeit in der Politik“ seien seine Sache – auch wenn der Kanzler anruft und doch zum Gefecht bläst.

Andreas Matthae, den die taz zu ihrer Diskussionsveranstaltung „Links wählen und Stoiber bekommen?“ mit seinen beiden Konkurrenten Bärbel Grygier (für die PDS) und Christian Ströbele (Grüne) ins Umspannwerk Ost geladen hatte, könnte am 22. September der lachende Dritte sein, während sich Ströbele um Kreuzberger und Grygier um Friedrichshainer Stimmen balgen. Denn schon bei der letzten Wahl haben mehr als ein Drittel der Wähler in Friedrichshain und Kreuzberg SPD gewählt.

Und darum hängt der Kandidat ganz entspannt in seinem Stuhl, die Sonnenbrille vorn ins Hemd gesteckt und fährt gegen „Bärbel“ und „Christian“ kaum Attacken, sondern macht Eigenwerbung: als selbstbewusster Kriegsgegner – „notfalls gegen die eigene Fraktion“ –, als Anwalt „gesellschaftspolitischer Gerechtigkeit“ – wie etwa in der Frage der Gleichstellung von Frauen – und als Befürworter eines Eichel’schen Sparkurses unter der Voraussetzung, dass dieser „sozial gerecht“ durchgezogen werde – übrigens Positionen, die seine „Gegner“ auf dem Podium teilen.

Seien wir mal ehrlich. Dass die über 250 Besucher im voll besetzten Umspannwerk in der Mehrheit wohl am liebsten alle drei Kandidaten spezifisch-linker Kiezcoleur im Bundestag sähen, war an diesem Abend zu spüren. Auch, dass sowohl Ströbele als auch Grygier nach wie vor um die Erststimmen im Wahlkreis 84 in Friedrichshain-Kreuzberg kämpfen. Ihnen sind noch die kleinen, aber feinen Nuancen bei der Vermittlung linker Politik wichtig.

Grygier ist zwar durch die Landesliste abgesichert – unter der Voraussetzung, die PDS schafft die 5-Prozent-Hürde oder erringt drei Direktmandate. Ströbele dagegen muss gewinnen, wenn er wieder in den Bundestag einziehen will, hat ihn doch die Partei nicht mehr nominiert. Vor vier Jahren erreichte er 29,6 Prozent, allerdings damals im Wahlkreis Kreuzberg-Schöneberg. Doch jetzt gehören zum Wahlkreis Friedrichshain und der östliche Teil von Prenzlauer Berg – kein originär grünes Terrain.

Wen der Linken also wählen, fragte die taz, zumal die Wahl der PDS-Kandidatin das Risiko beinhaltet, dass Stoibers Chancen steigen? Vielleicht hat Ströbele darum noch einmal alle Register gezogen, nicht allein um für Rot-Grün zu werben sowie seine Bedeutung als Außenseiter im realpolitisch gewordenen Gleichklang grüner Regierungspolitik zu formulieren. Sondern auch, den PDS-Wählern ihre paradoxe Situation vorzuhalten: „Es kann nur das Interesse der Linken sein, Rot-Grün zu stärken“.

Und mehr noch. Weder die PDS-Kandidatin Grygier noch der SPDler Matthae „haben die Erfahrung bei der Arbeit mit den Themen Geheimdienste oder Spendenskandal“, erinnerte Ströbele, dessen „Stimme auch gegen Krieg und Auslandseinsätze der Bundeswehr erprobt ist“. Überhaupt kam dem Kandidaten gelegen, dass neben den Themen Krieg und Frieden, Frauen- und Finanzpolitik über Sozial-, Gesundheits- und Einwanderungspolitik debattiert wurde – nicht nur „grüne Themen“, sondern solche, die speziell in den Bezirken auf der Tagesordnung stehen.

Ströbele kennt seine Pappenheimer: „Natürlich ist das Zuwanderungsgesetz noch nachbesserungsfähig“, sagte er. Gut kommt auch für BürgerInnen eines Bezirks mit hoher Armut an, „für eine Vermögenssteuer und gegen die Anrechnung des Kindergeldes bei der Sozialhilfe“ zu sein. Und als Ströbele den Klassenkämpfer in die Waagschale wirft – „Wir müssen noch mehr von oben nach unten verteilen, nicht umgekehrt“ –, kommt Beifall auf.

Vielleicht hat Bärbel Grygier auf all das darum so locker gekontert – „dass plötzlich alle gegen Krieg, für die Gleichstellung und für soziales Sparen sind“ –, weil die Wirklichkeit rot-grüner Politik in den vier Jahren Schröder anders ausgesehen hat. Von einer „konsequenten und mutigen Friedenspolitik“, wie die PDS sie fordert, sei man noch weit entfernt. Die Quotenregelung allein bedeute noch lange nicht, dass Frauen auch in den „wesentlichen gesellschaftlichen und politischen“ Fragen beteiligt würden. Und Sparen als Prinzip führe nicht zum Erfolg, „wenn man nicht auch an die Vermögens- oder Erbschaftssteuer geht“ und die gesellschaftliche Verantwortung dieser sieht.

Es hat an diesem Abend etwas gedauert, bis die bekannte linke Diskussions- und Streitkultur ins Rollen kam. Sich gegenseitig richtig weh tat man nicht, man kennt sich, und zu nah sind sich viele Positionen aus linkem SPD-Spektrum, wie es Matthae verkörpert, bis hinüber in die PDS à la Grygier. Da brauchte es schon eine Provokation wie die eines Zuhörers, der Matthae unterstellte, dass er samt SPD die derzeitige Antikriegshaltung der Bundesregierung zum Irak nach dem 22. September „einfach“ vergessen könnte. Matthae gab sich nicht mehr so entspannt und polterte zurück. Da höre der Spaß auf im linken Friedrichshain-Kreuzberg, wenn man den Kandidaten nicht mehr traute, wofür sie stehen und wofür sie alle drei bekannt seien. Nämlich dafür, wie Grygier fand, dass sie doch ein wenig anders sind als der Rest der Parteigänger.