Doping für die träge Tante

Gerhard Schröder neidet den Grünen ihren Ruf als Reformer. Deshalb bastelt er für seine SPD bis zuletzt an drei Superministerien

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Wenn zwei Sozialdemokraten an diesem Dienstag das Gleiche tun, kann es trotzdem sehr Unterschiedliches bedeuten. So hat gestern Verkehrsminister Kurt Bodewig darauf verzichtet, die Einweihung einer Brücke bei Magdeburg mit seiner Anwesenheit zu beehren. Der ostdeutsche Kommunalpolitiker Wolfgang Tiefensee wiederum hat zwei Verabredungen in Chemnitz sausen lassen, wie sein Büro der Öffentlichkeit mitteilte.

Die Gründe für die Terminabsagen der beiden Politiker könnten gegensätzlicher kaum sein: Dem einen drohte die Entlassung als Minister, dem anderen die Beförderung zu seinem Nachfolger. Wer mehr Mitleid verdient, liegt im Auge des Betrachters: Als neu ernannter „Infrastrukturminister“ müsste der bisherige Leipziger Oberbürgermeister Tiefensee künftig auch den Aufbau Ost und also die Wirtschaftsmisere in Ostdeutschland verantworten. Wenn er will, dann wird er’s wohl – doch ob er will, soll erst heute verkündet werden.

Im Willy-Brandt-Haus war gestern Abend um kurz nach fünf bereits ein eigentümliches Abbruchunternehmen zu besichtigen. Die Rednerpulte, an denen bisher die Koalitionäre ihre Tageserfolge anpriesen, wurden auseinander geschraubt und abtransportiert. Kurzfristig hatten SPD und Grüne die Vorstellung der neuen Kabinettsliste auf den kommenden Morgen verschoben. „Die strittigen Fragen sind Personalien und Ressortzuschnitte“, sagte ein Eingeweihter. Das hatte man sich schon gedacht.

Mehr als je zuvor vermischten sich im Verlauf des zwölften und letzten Durchgangs der Koalitionsverhandlungen Gewissheiten und Unsicherheiten. Die Spekulationen lösten sich zum Teil im Halbstundentakt ab. Zwei Gewissheiten standen jedoch bereits fest: Rot und Grün treten mit unterschiedlichen Personalkonzepten an – und wenn es nach dem Kanzler geht, sollen die SPD-Minister ihren grünen Kabinettskollegen den Ruf der Reformer abjagen.

Die Grünen setzen bei ihrer Ministerriege auf ein einfaches Konzept: Wir sind gut, also bleiben wir. Bei den Sozialdemokraten hat dagegen nach der Bundestagswahl ein Umdenken begonnen. Die SPD-Plätze am Kabinettstisch werden nun in viel größerem Stil neu besetzt, als es der siegreiche Parteivorsitzende Schröder noch auf seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl angekündigt hatte. Erhalten bleiben nur die rote Kernmannschaft aus Schily, Struck und Eichel sowie die beiden Fachministerinnen für Bildung, Edelgard Bulmahn, und für Entwicklungshilfe, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Rot und Grün konkurrieren also auch bei der Frage, wessen Team zur Halbzeit dieser Legislatur frischer dastehen wird: das grüne Trio Fischer, Künast und Trittin oder die erneuerte SPD-Mannschaft.

Mehr als um die Zahl neuer Köpfe am Kabinettstisch ging es beiden Seiten freilich um den Zuschnitt der Ressorts. Die Grünen setzten früh auf mehr Kompetenzen für ihre Minister – um den Preis eines vierten grünen Ressortchefs. Oder war genau darum gestern Abend ein Streit entbrannt? Womöglich sogar innerhalb des grünen Verhandlungsteams? Außenminister Joschka Fischer wollte nicht nur eine Auslagerung der Europazuständigkeit ins Kanzleramt verhindern, sondern in Europafragen auch anderen Häusern künftig Vorschriften machen dürfen. Umweltminister Jürgen Trittin zankte sich noch gestern Nachmittag mit der SPD um die Oberhoheit über erneuerbare Energien, die bisher beim Wirtschaftsminister liegt. Verbraucherministerin Renate Künast griff nach der grünen Gentechnik sowie Verbraucherschutzkompetenzen über den Agrar- und Lebensmittelbereich hinaus. Mit einiger Verzögerung hat freilich auch SPD-Chef Schröder den Reiz von Strukturen erkannt – und in großem Stil den Umbau von Ministerien beschlossen. Womöglich zimmern sich die Sozialdemokraten gleich drei „Großministerien“ zurecht. Schröder war bereits im Wahlkampf verärgert, weil die Grünen sich hartnäckig als „Reformmotor“ präsentierten – und die SPD als eher träge Tante. Drei „Superminister“ könnten dagegen den Ruf der SPD als Kämpferin gegen den Reformstau retten: Wolfgang Clement, der die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bündeln soll, Wolfgang Tiefensee mit einem Infrastrukturministerium und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Trotz ihrer erweiterten Zuständigkeit für die Rente dürfte sie allerdings eine Superministerin mit Kratzern werden: Nicht nur hat sie bereits zwei glanzlose Jahre im Kampf mit der Pharma- und Ärztelobby hinter sich, sondern sie galt sogar als mögliche Ablösekandidatin.

Ausgerechnet zwei Ressorts, für die die Grünen Köpfe und Konzepte hätten, blieben gestern völlig offen: Für das Familienministerium wie die Justiz waren diverse Bewerberinnen im Gespräch – aber alle aus der SPD.