Chens zerbrochener Traum

aus Shenyang GEORG BLUME

Jeden Morgen nach den Tai-Chi-Übungen und einer Reissuppe tritt der alte Soldat und Arbeiter Chen Jianhua vor die verbogene Eisentür seines Arbeiterwohnblocks in der nordchinesischen Sechsmillionenstadt Shenyang. Es scheint dann, als hätten alle Nachbarn auf das 75-jährige Basismitglied der Kommunistischen Partei gewartet. Kinder kommen herbeigelaufen, um von dem Spitzbärtigen ein Bonbon zu erbetteln. Gemüseverkäuferinnen treten hinter ihren Ständen hervor, um dem in einen traditionellen Seidenanzug Gekleideten ein Grußwort zuzurufen. Auf der Brücke vor dem Shenyanger Arbeiterpark aber warten bereits ein Friseur und eine Gruppe junger Männer, die ihr Gespräch respektvoll abbrechen, als der Alte herbeitritt und auf einem quietschenden Holzdrehstuhl für die Morgenrasur Platz nimmt.

Leute wie Chen gibt es in China nur noch selten. Kommunisten, die von allen Generationen als Autorität gesehen werden. Aber sie halten das Land zusammen, wo es auseinander zu brechen droht: In den alten Industriezentren Nord- und Westchinas, in denen seit dem letzten KP-Parteitag vor fünf Jahren Millionen arbeitslos sind.

Die Geschichte des Alten

Unter dem Wellblech der Friseursbude in Shenyang hat sich bald ein dichter Menschenpulk versammelt. Gespannt lauscht die Runde, wie Chen, während ihm Rasierschaum angelegt wird, seine Geschichte erzählt: Wie er als Kind die brutale Kolonialherrschaft der Japaner überlebte, im anschließenden Bürgerkrieg erst auf Seiten der nationalistischen Kuomintang kämpfte, dann aber deren verbrecherische Art erkannte und zu den Kommunisten überlief. 1952 trat er der Partei bei. Der Friseur muss immer wieder seine Arbeit unterbrechen. Chen spricht über Mao Tse-tung. Wie der allen Arbeit gab, wie man unter seiner Führung in den Fünfzigerjahren goldene Aufbauzeiten erlebte, bis er sich schließlich in den Wirren der Kulturrevolution verirrte. Aus ihnen bildeten die marktwirtschaftlichen Reformen des Mao-Nachfolgers Deng Xiaoping den einzig möglichen Ausweg.

„Deng ließ Hochhäuser bauen und öffnete China zur Welt. Das war richtig“, wägt Chen ab, während der Friseur seine Geräte wegräumt. „Aber Dengs Aussprüche, dass das Reich glorreich sei und einige zuerst reich werden dürften, rechtfertigen heute alle Exzesse.“ So spricht der Alte ohne Reue, aber auch ohne alles Schönreden. Die Umstehenden werden ungeduldig. Sie harren des Urteils von Chen über die aktuelle Lage. Endlich haut der Alte auf den amtierenden Parteichef ein: „Nie hätte ich mir träumen lassen, dass unter dem Genossen Jiang Zemin alle meine Hoffnungen zerbrechen“, sagt er. „Früher waren wir Arbeiter alles, heute sind wir Arbeiter wieder ganz unten. Die Kader haben alles gewonnen, und die Partei ist von Korruption zerfressen. Aber wer das öffentlich sagt, wird verhaftet.“

Chens Worte wirken wie ein Signal auf die Menschen um ihn. Sie zetern über das eigene, ungerechte Schicksal. Denn alle hier sind arbeitslos, alle fühlen sich – weil ihre Erziehung kommunistisch war – mit der Arbeit auch ihrer Menschenwürde beraubt. Die jungen Männer erzählen, dass ihnen oft nichts anderes übrig bleibt, als morgens ab drei Uhr für die Auszahlung eines Teils ihres staatlich garantierten Mindestlohns von monatlich 223 Yuan (umgerechnet 27 Euro) Schlange zu stehen. Oft ist die Arbeitslosenkasse leer, wenn sie den Schalter erreichen. Dann gilt es, sich am nächsten Tag erneut anzustellen.

Den Gemüseverkäuferinnen ergeht es kaum besser: Sie müssen seit ihrer Entlassung aus der Fabrik früh in der Nacht aufstehen, um den Bauern draußen vor der Stadt ihre Ware abzunehmen, die sie mit geringem Aufpreis in Shenyang verkaufen. „Nur der Friseur hat es geschafft, eine neue Existenz zu gründen“, sagt eine ehemalige Chemiearbeiterin, die heute Gurken verkauft. „Wir anderen leben von einem Tag zum anderen, und wer krank ist und kein Geld hat, muss sterben.“

Die Lage der Arbeiter in Shenyang trägt revolutionäre Züge. Hunderte von Fabriken liegen still. Die vielen Arbeitslosen der Stadt bevölkern tagsüber die Märkte, abends spielen sie im Straßenstaub Karten. Alle aber suchen nach Beschäftigung, egal ob als Verkäufer, Träger, Fahrer, Maler oder Maurer. „90 Prozent bei uns im Viertel sind arbeitslos“, schätzt Chen. „Nein, wir sind nicht arbeitslos. Die Partei sagt, dass wir den Arbeitsplatz nur vorübergehend verlassen haben“, entgegnet ein Stahlarbeiter. Nach 16 Jahren Betriebszugehörigkeit hat er seinen Arbeitsplatz ausgerechnet verloren, als seine Frau schwanger wurde. Auch er erhält jetzt nur noch den üblichen Mindestlohn.

Chen ist viel zu sehr Kommunist, um solche Demütigungen seinesgleichen zu akzeptieren. Er wendet sich aber auch nicht von der Partei ab, das ist eine Frage der Abwägung. Natürlich habe das Ende der Planwirtschaft die chinesische Arbeiterklasse ihres sozialen Ansehens beraubt. Natürlich habe die Partei dabei Arbeiterinteressen verraten. Aber mache es Sinn, deshalb allen Ärger auf sie abzuwälzen? Wäre die Alternative nicht zwangsläufig eine Partei des neu geborenen Unternehmertums, wie es selbst in Shenyang mit seinen Büro- und Hoteltürmen im Zentrum schon sichtbar sei? Insofern bleibt Chens Verdruss im Rahmen der Gegebenheiten. Er will, dass sich die Partei läutert, nicht, dass sie untergeht. Damit vertritt er den Konsens im Arbeitervolk, dem ein revolutionäres Bewusstsein bis heute fehlt.

Welch ein Glück für die regierenden Kommunisten! Sie stehen intern vor großen Veränderungen. Auf ihrem 16. Parteitag, der am 8. November in Peking zusammentritt, soll nicht nur ein kompletter Generationswechsel in der Führung das Bild der Partei erneuern. Eine Satzungsänderung soll Unternehmern Zutritt zur Partei verschaffen und den Regierungsauftrag der KP neu bestimmen: statt nur der Arbeiterklasse soll sie in Zukunft einer „Mehrheit des Volkes“ dienen. All diese Anpassungsmanöver der Kommunisten an den Einzug des Kapitalismus in China aber wären undenkbar, wenn in der Arbeiterklasse offener Aufruhr herrschen würde.

Vielleicht gibt es dazu keinen Grund. Annäherend 50 Millionen Arbeitsplätze gingen landesweit in den vergangenen fünf Jahren durch den Abbau der Staatsunternehmen verloren. Doch in der gleichen Zeit wurden über 20 Millionen Privatfirmen gegründet. In bevölkerungsreichen Südprovinzen wie Zhejiang und Jiangsu am Jangtse-Fluss, wo das neue Unternehmertum am stärksten ist, gibt es heute kaum Arbeitslose, obwohl Millionen aus dem Hinterland zuwanderten. Das wissen auch die Menschen im nördlichen Shenyang und hoffen, dass der Unternehmerreichtum des Südens eines Tages auch sie erreicht.

Doch die Risiken der Entwicklung sind groß. In keinem anderen Land der Welt sind je in so kurzer Zeit so viele Menschen auf die Straße gesetzt worden wie in den letzten fünf Jahren in der Volksrepublik. Viele Arbeitslose wissen allerdings, dass die von ihren alten Firmen hergestellten Produkte international nicht konkurrenzfähig waren. Das macht sie bescheiden. In Shenyang ist die Mehrheit gleichwohl unzufrieden. In keiner anderen Stadt Chinas kam es in den letzten Jahren zu so vielen vereinzelten Arbeiterprotesten.

Lu Kengs „Riverside Garden“

In Shenyang leben aber auch Männer wie Lu Keng, der Gründer des Huaxin-Konzerns. Kürzlich wählten ihn Journalisten zum besten Immobilienunternehmer Chinas. Vor neun Jahren zog er mit seiner Firma von Schanghai nach Shenyang, weil sich ihm hier ein Großprojekt anbot: Heute wohnen im „Riverside Garden“, dem teuersten Wohnviertel Shenyangs, die oberen Tausend der Stadt. Daneben öffnet gerade ein neues Apartment-Hochhaus mit 30 Stockwerken und Einkaufszentrum, das ebenfalls Lus Konzern errichtet hat. Der Unternehmer ist optimistisch. „In Shenyang“, sagt er, „gibt es zu viele Staatsbetriebe und zu wenig Privatunternehmen, zu viel Großbetriebe und zu wenig Kleinunternehmen, zu viel Produzenten und zu wenig Dienstleister, zu viel alte Industrie und zu wenig neue. Aber die Partei hat das verstanden und wird es ändern.“ Als Beweis dafür erzählt Lu, dass ihn die Partei in ihr wichtigstes beratendes Gremium in Shenyang berufen hat. Das ist ganz im Sinne des bervorstehenden Parteitags. Fragt sich nur, wie lange die Kommunisten ihre Gratwanderung zwischen alter Arbeiter- und neuer Unternehmerpartei durchhalten.