: Wahrscheinlich bin ich ein Bieler
Muss man nach dreißig Auslandsjahren Heimweh nach der Schweiz haben? Nein – oder: non
von NIKLAUS HABLÜTZEL
Das Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, sang fast eine ganze Woche lang im Jazzkeller. Am Ende immer „Only You“ von Percy Sledge, davor französische Chansons. „Göttingen“ von Barbara, und Göttingen war danach monatelang die Stadt meiner melancholischsten Träume. Ich glaube, sie hieß Marita oder so ähnlich und war schön, sehr schön. Aber only you war ein anderer, ich hasste ihn dafür, und Göttingen? Nichts war damit, als ich dort zum ersten Mal auf dem Bahnsteig stand.
Wenn ich manchmal gefragt werde, woher ich komme, möchte ich sagen, dass ich aus Biel komme. Aber ich sage es nicht, weil ich nicht annehme, dass irgendjemand Biel kennt. Ich muss an der Frage vorbeiantworten und sage dann, dass ich Schweizer bin. Ich meine damit nicht, dass ich aus der Schweiz komme. Ich komme aus Biel. Weil Biel in der Schweiz liegt, bin ich Schweizer.
Es wundert mich noch immer, dass man es in Deutschland interessant findet, einen Schweizer zu treffen. Ich finde es nicht interessant. Die Schweiz ist ein kleines Land mit kleinen Problemen ohne überregionale Bedeutung. Ich versuche mich damit zu entschuldigen, dass ich schon seit über dreißig Jahren nicht dort lebe, und merke sofort, dass diese Ausrede nicht gut ankommt. Manchmal wissen Leute, die noch nie dort gelebt haben, viel mehr über die Schweiz als ich. Sie kennen die Berge, sogar die hinterletzten Täler, von denen ich noch nie etwas gehört habe.
In Biel gibt es keine Berge. Biel liegt am Jurasüdfuß. Aber das ist wieder ein Wort, das ich im Gespräch mit den Ausländern vermeide, unter denen ich lebe. Es ist so ganz und gar schweizerisch, dass es mir peinlich ist. Dabei ist es ein sehr gutes Wort, das präzise und erschöpfend Auskunft gibt über die Topografie meiner Heimat. Genau dort, wo der tektonische Faltenriegel, der sich von Frankreich bis nach Bayern quer legt, in das flache Land hinabtaucht, liegt Biel. An der südlichen Flanke des Jura. Natürlicherweise hat sich an dieser Bruchstelle ein See gebildet, und an den steilen Kalkhängen am Nordufer wächst ein Wein, mit dem ich ein bisschen angeben kann. So gar nichts weiß ich ja nun doch nicht über die Schweiz. Ich weiß, was ein Twanner ist. Und ich kann dann ungeniert sagen, dass es keinen besseren Wein gibt, weil das niemand nachprüfen kann.
Heimweh habe ich noch nie gehabt, auch danach werde ich oft gefragt. Und ob ich nicht wieder zurückmöchte? Ich denke nicht einmal darüber nach. Auch nicht nach Biel. Das schon gar nicht, denn in der Schweiz sind die Bieler nicht gut angesehen. Sie sind ein bisschen links in dem Doppelsinn, den das Wort auch im Schweizerdeutschen hat. Halbseiden eben, nichts Ordentliches, mal reden sie deutsch, mal französisch.
Das ist wirklich so, und Bieler denken über vieles nach – viel mehr, als man ihnen zu Hause zutraut –, aber ganz bestimmt nicht darüber, dass sie zweisprachig leben. Es ist so normal, dass es darüber nichts zu sagen gibt. „J’ en ai mare de pisser toujours contre le même mur“, hat mein Französischlehrer am deutschsprachigen Gymnasium von Biel gesagt, als wir alle mal wieder kläglich im passé simple versagt hatten. Für diesen Satz mag ich ihn noch heute.
Nur hatten wir halt keine Ahnung von der französischen Sprache. Wir haben sie bloß gesprochen, jeden Tag, und heute finde ich, dass ich eben deswegen kein Heimweh nach Biel haben kann. Denn ich habe dieses Biel nie verlassen, ich habe es mitgenommen und rechne noch immer und überall damit, dass meine nächsten Nachbarn nicht meine Muttersprache sprechen.
Marita, wenn sie so hieß, war eine Welsche, soweit ich mich erinnern kann. So nennt man auch in Biel die Schweizer französischer Muttersprache. Aber sie hat nur selten mit mir gesprochen, ich glaube auf Deutsch, aber ich habe ganz sicher französisch geantwortet.
Es gab leider nicht das geringste Missverständnis zwischen uns, sie liebte diesen anderen. Aber sie fand mich nett, und spät nachts, wenn der Jazzkeller schloss, konnte man ein paar Schritte weiter auf der Mauer des Kirchhofs hinter dem Rathausplatz sitzen und hinabschauen in das enge Gässchen, das dort unten lag. Man konnte Rotwein trinken, französischen, in der letzten Kneipe, bloß keinen Twanner, und vielleicht kam Jörg Steiner noch vorbei, der Schriftsteller, der draußen in der Seevorstadt wohnte, dort, wo Robert Walser geboren worden ist, und der kleine Adrian Wettach, der sich später „Grock“ nannte. Was davon ist schweizerisch?
Nichts, gar nichts. Das alles gab es in Biel, mithin in der Schweiz, und ich erinnere mich gerne daran. Noch lieber aber habe ich das meiste vergessen, und was bleibt, ist wertvoll geworden, weil es damals so anders war als der Rest der Schweiz, die ich bald danach ohne jeden Abschiedsschmerz verlassen habe.
Selbst in diesem minoritären Biel hielt mich nichts fest, und Bieler im Herzen – dass ich das vielleicht bin, gebe ich hiermit zu – bin ich erst viele Jahre später geworden. Ich glaube, es war in Hamburg, als die vereinigten Linken, Alternativen, Autonomen und Grünen im Schanzenviertel ein Straßenfest organisiert hatten, das in irgendeiner schwer verständlichen Weise auf die Lage der dort lebenden Ausländer aufmerksam machen sollte.
Auf einmal verstand ich, warum ich Ausländer mich bei solchen Anlässen noch nie wohl gefühlt habe. Nicht deswegen, weil Schweizer nun mal keine ordentlichen Elendsflüchtlinge mit Integrationsproblemen sind. Durchaus nicht, ich konnte jederzeit mit absurden Schikanen der Ausländerbehörde aufwarten, die es mir praktisch unmöglich gemacht hat, einen deutschen Arbeitsplatz zu besetzen.
Falsch an diesen politischen Festen der Wohlmeinenden war etwas ganz anderes. Im Hamburger Schanzenviertel konnte man jederzeit türkisch, kroatisch, libanesisch, spanisch, portugiesisch, griechisch, thailändisch, chinesisch und indisch essen gehen, und zwar gut, reichlich, preiswert und bequem. Dasselbe konnte man auch auf dem Straßenfest, aber schlechter, teurer, unbequemer und mit schwer verdaulichen Parolen garniert. Ganz offenbar hatten die deutschen Organisatoren das Gefühl, die doch nun wirklich für niemanden übersehbare Tatsache, dass dieses Stadtviertel mehrsprachig ist, sei ein Grund zu feiern und auf jeden Fall ein Thema für längere politische und kulturelle Diskurse.
Ich aber fühlte mich als Bieler. Und Bieler können einfach nicht verstehen, warum es ein Problem sein soll, dass jemand eine andere Sprache spricht. Jeder ist nun mal anders, und man versteht sich in Biel kein bisschen besser als anderswo. Bieler sind keine besseren Menschen, sind nur in zwei Sprachen mal gut, mal schlecht, manche sind schwer kriminell, und nur ganz wenige kommen in den Himmel.
Ich wahrscheinlich nicht. Ich habe schon im Schanzenviertel gegen die guten Sitten verstoßen, weil ich mich an den multikulturellen Anstrengungen meiner engsten politischen Freunde nicht beteiligt habe. Ich bin monokulturell. Ich finde islamische Patriarchen hinterwäldlerisch und Sirtaki langweilig. Aber zu meiner Monokultur gehören zwei Sprachen. Also spreche ich meistens deutsch – aber ich träume überraschend oft in Französisch.
Nicht von Marita, die wahrscheinlich doch anders hieß. Ich weiß es einfach nicht mehr, und die Schweiz ist unendlich weit in die Vergangenheit entrückt, so weit, dass ich mir patriotische Gefühle gestatte, wenn Oliver Neuville für die Leverkusener gegen das Bayerntor anstürmt. Ein Idealfall für Auslandsschweizer. Wir gewinnen immer. Entweder mit dem Schweizer Stürmer oder dem Schweizer Trainer Hitzfeld.
Aber wenn ich irgendwohin nach Hause kehren sollte, dann denke ich an die Türkei. Im Laden meines Gemüsehändlers sagt mir das bisschen Biel, das mir aus der Schweiz geblieben ist, dass ich hier richtig bin. Er redet mit seinen türkischen Angestellten manchmal deutsch. Daran wundert mich nur, dass ich sein Türkisch so schlecht verstehe. Aber in Istanbul würde sich das wohl von selbst ergeben. Wie in Biel.
NIKLAUS HABLÜTZEL, 53, ist verantwortlich für die Internetseite der taz
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