Zwischen allen Stühlen

In der Nachkriegszeit wanderten dreißig Schweizer Kommunisten in die DDR aus. Sie kamen vom Regen in die Traufe. In der antikommunistischen Schweiz galten sie als fünfte Kolonne Moskaus. Ostberlin verdächtigte sie, Agenten im Auftrag des kapitalistischen Westens zu sein

von PHILIPP MÄDER

1949 wanderte das Schweizer Ehepaar Goldschmidt in die DDR aus. Drei Jahre später erhielt Aenne Goldschmidt für ihre Leistungen als Leiterin eines staatlichen Tanzensembles den deutschen Nationalpreis, die höchste Auszeichnung der DDR. In einem Interview mit der Ostberliner National-Zeitung erzählte die damals 32-Jährige von ihrer tänzerischen Ausbildung am Theater in Bern. Dort seien aus finanziellen Gründen viele Operetten aufgeführt worden: „Ich habe nichts gegen Operetten; aber in den Schmarren, die gespielt wurden, fand ich keine Gelegenheit, meine Weltanschauung tänzerisch auszudrücken.“ Goldschmidts Weltanschauung war der Kommunismus. Bern hingegen ist eine bürgerliche Stadt.

Die Goldschmidts gehörten zu einer ersten Gruppe von fünfzehn Schweizer KommunistInnen, die zwischen 1946 und 1950 nach Ostdeutschland gingen – in der Hoffnung, dort ihre geistige Heimstatt zu finden: Wissenschaftler, Schauspieler, Theaterregisseure. In der unmittelbaren Nachkriegszeit traten viele Schweizer Intellektuelle der kommunistischen Partei bei, der „Partei der Arbeit“. Während des Krieges war im Zeichen der „geistigen Landesverteidigung“ jede Kritik an den herrschenden Verhältnissen im Keim erstickt worden; nun befand sich die Schweiz in Aufbruchstimmung. Soziale Forderungen wurden laut. Die bürgerlichen Parteien fürchteten, ihre politische Mehrheit an die Linke zu verlieren.

In der Sowjetischen Besatzungszone und der 1949 gegründeten DDR hingegen mangelte es bei der Besetzung wichtiger Stellen an linientreuen Genossen. Diese Lücke wussten die Schweizer Kommunisten für sich zu nutzen. Sie gingen nicht nur in die DDR, um altruistisch beim „Aufbau des Sozialismus“ mitzuhelfen. Die Übersiedlung in die DDR brachte sie auch in attraktive berufliche Positionen. Sie wurden Institutsleiter, Theaterdirektoren und Professoren.

Befreundete SED-Mitglieder halfen bei der Stellensuche. Auch der Schweizer Rudolf Wullschleger konnte seine Auswanderung in die DDR mit einem Karrieresprung verbinden. 1949 wurde er an der Universität von Halle-Wittenberg Dozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In der Schweiz hatte er als Redakteur des kommunistischen Parteiorgans Vorwärts sein Brot verdienen müssen.

1950 wurde im Neuen Deutschland zu „Wachsamkeit gegenüber Westspionen“ aufgerufen. In der DDR entstand ein Klima des Misstrauens, das sich besonders gegen Genossen richtete, die über Kontakte zum kapitalistischen Ausland verfügten – wie es bei den Schweizern in der DDR der Fall war. Zudem hatten einige von ihnen während des Krieges mit dem Amerikaner Noel Field zusammengearbeitet, der von der neutralen Schweiz aus Hilfslieferungen an Kriegsgefangene organisierte. 1949 wurde Field nach Prag gelockt und dort als angeblicher Agent im Dienste der USA verhaftet. Daraufhin musste er als Hauptbelastungszeuge in einer Reihe von spätstalinistischen Schauprozessen Osteuropas herhalten.

Seine einstige Nähe zu Field kostete Harry Goldschmidt die Stelle als Abteilungsleiter für Musik beim Berliner Rundfunk. Die bürgerlichen Zeitungen der Schweiz meldeten die Entlassung in „Sowjet-Berlin“ – wie eine von ihnen titelte – mit Häme. Härter traf es Rudolf Wullschleger. 1952 wurde er aus der DDR ausgewiesen. Eine Begründung erhielt er nie, vermutete aber, der Spionage verdächtigt worden zu sein. Mit Frau und Kind reiste er über Prag in die Schweiz zurück, voll Angst vor einer Verhaftung in letzter Minute.

Als Wullschleger in die Schweiz zurückkam, war dort die Morgenröte der unmittelbaren Nachkriegszeit dem Kalten Krieg gewichen, der sich gegen die vermeintliche Gefahr aus dem Osten richtete. Ungeachtet der vom Bundesrat permanent verkündeten Neutralität stand die Schweiz in Reih und Glied mit den übrigen Ländern des westlichen Bündnisses. Die latente Furcht des unversehrt aus dem Krieg hervorgegangenen Landes, bei den Westalliierten als Kriegsgewinnler zu gelten, ließ die Schweiz, so der Basler Historikers Georg Kreis, eine „Diktatur des Antikommunismus“ errichten.

Mitglieder der kommunistischen Partei galten als fünfte Kolonne Moskaus und wurden von der politischen Polizei der Schweiz, der so genannten Bundespolizei, systematisch überwacht. Viele Kommunisten standen vor der Wahl, aus der Partei auszutreten oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren. In einem Überwachungsbericht der politischen Polizei heißt es, der aus der DDR zurückgekehrte Wullschleger sei „froh über die geringste Arbeit“.

Hans Schmidt, Architekt und Abgeordneter der kommunistischen Partei im Parlament des Kantons Basel-Stadt, litt ebenfalls unter dem Ausschluss der Kommunisten aus der nationalen Gemeinschaft der Schweiz. 1947 hatte er noch den Auftrag erhalten, die eidgenössische Botschaft in Warschau zu bauen. Nach 1950 wurde er von der öffentlichen Hand nicht mehr berücksichtigt. In einem Brief an das Zentralkomitee der SED bat deshalb die kommunistische Partei der Schweiz im Jahre 1954 um Arbeit für den Architekten: „Die Folge ist, dass er sich auch ökonomisch in schlimmer Lage befindet, oft ohne irgendwelche Existenzmittel zum Unterhalt seiner Familie.“

Die Bemühungen hatten Erfolg: 1956 konnte Hans Schmidt zusammen mit seiner Frau nach Ostberlin übersiedeln und wurde dort Chefarchitekt am Institut für Typung. Dem Institut kam die zweifelhafte Ehre zu, für die Projektierung der DDR-Plattenbauten verantwortlich zu sein. Die Schmidts waren damit nach fünf Jahren die ersten Schweizer Kommunisten, die wieder in die DDR einreisen durften. Zwischen 1950 und 1955 hatten mehr als ein Dutzend Schweizer Niederlassungsanträge gestellt. Alle wurden sie vom Zentralkomitee der SED abgelehnt. Zu groß war deren Furcht vor einer Unterwanderung durch westliche Agenten – offizielle Doktrin vom „proletarischen Internationalismus“ hin oder her. Erst die berühmte Rede Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 und die damit einsetzende partielle Entstalinisierung öffneten den Eisernen Vorhang für die Schweizer erneut. Während hunderttausende von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik flohen, gingen zwischen 1956 und 1966 nochmals fünfzehn Schweizer in die DDR. Neben Intellektuellen diesmal auch ein Maschinenmonteur, ein Automechaniker, eine Sekretärin sowie einige Studenten.

Doch in den Sechzigerjahren verlor die zunehmend erstarrende DDR auch für helvetische Kommunisten an Attraktivität, die Imagination der DDR als sozialistischer Modellstaat wurde brüchig. Gleichzeitig bröckelte auch die „Diktatur des Antikommunismus“ in der Schweiz. Der versprengte Haufen überzeugter Kommunisten, den es in der Schweiz nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands und des Prager Frühlings noch gab, zog es vor, sich mit dem kapitalistischen System zu arrangieren. Nach 1966 gingen keine Schweizer Kommunisten mehr in die DDR.

Auch die früheren Übersiedler bekamen zunehmend Heimweh nach den Alpen. Die Rückwanderung in die Schweiz setzte jedoch die Aussicht auf eine gesicherte Existenz voraus. Ende der Siebzigerjahre sprach Marcel Bähler aus diesem Grund bei der Schweizer Botschaft in Ostberlin vor. Als Zehnjähriger war er 1950 mit seinen Eltern in die DDR gekommen, hatte dort studiert, eine DDR-Bürgerin geheiratet und eine Familie gegründet. Der Schweizer Botschafter habe damals durchblicken lassen, erzählt Bähler heute im Gespräch, dass er, Bähler, mit seiner DDR-Vergangenheit in der Schweiz keine Arbeit finden werde: „Er sagte mir: ‚Bleiben Sie da, wo Sie sind. Da sind Sie mit Ihrer Familie besser behütet.‘ “ Bähler ließ sich daraufhin in der DDR einbürgern, obwohl er dadurch den Schweizer Pass und die Möglichkeit verlor, in den Westen zu reisen. „Das sorgte für ungläubiges Staunen in meinem Bekanntenkreis“, erinnert sich Bähler, der heute in Berlin-Marzahn lebt.

Bähler blieb mit diesem Schritt eine Ausnahme. Die übrigen Schweizer wollten ihren Pass behalten. Zwar verteidigen sie noch heute den Mauerbau als notwendig, um ein „Ausbluten der DDR“ zu verhindern. Selbst wollten sie jedoch nicht auf ihre Reisefreiheit verzichten. Auch für Aenne Goldschmidt kam es nie in Frage, DDR-Bürgerin zu werden: „Ich habe mich immer als Schweizerin gefühlt, auch wenn ich den größten Teil meines Lebens in der DDR verbrachte.“ In den Ferien fuhr sie jedes Jahr in die Schweiz, nach dem Zusammenbruch der DDR kehrte sie endgültig nach Basel zurück. Wenn sie schon in einem kapitalistischen Staat leben müsse, so argumentiert sie heute, dann lieber in der Schweiz als in der Bundesrepublik. Denn hierzulande gebe es immerhin noch Volksinitiative und Referendum, um die Absichten der Regierung zu durchkreuzen. Beispielsweise, wenn diese der EU beitreten wolle.

Tatsächlich lehnte das Schweizer Volk 1992 den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ab, 2001 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU – mit über 76 Prozent der Stimmen. Dies im Widerspruch zum Bundesrat, der den EU-Beitritt als Ziel in sein Regierungsprogramm geschrieben hat. Die vermeintliche Neutralität des helvetischen Kleinstaats, der Bevölkerung als Kehrreim in unzähligen Nationaltagsfeiern und Geschichtslektionen eingetrichtert, erweist sich als Bumerang: Trotz starker wirtschaftlicher Verflechtung mit der EU wollen sich die Stimmbürger der Schweiz heute politisch nicht in Europa integrieren.

Wie der EU steht Aenne Goldschmidt auch dem Kapitalismus weiterhin skeptisch gegenüber. Obwohl sie und die anderen DDR-Auswanderer sehen, dass der real existierende Sozialismus – in der DDR und anderswo – in eine Sackgasse führen musste. An die bleibende Herrschaft des Kapitalismus glauben sie dennoch nicht. Ein wieder zurückgekehrter Schweizer zitiert den DDR-Historiker Jürgen Kuczynski, der nach dem Mauerfall sagte, er werde die Wende zum Sozialismus zwar nicht mehr erleben, die Vorfreude auf ihn lasse er sich aber nicht nehmen. Und fügt hinzu: „Das ist ein wahnsinnig schöner Satz.“

PHILIPP MÄDER, 28, Ostschweizer, lebt nach drei Jahren in Berlin wieder in Zürich, arbeitet als Historiker und Journalist. Seine Lizentiatsarbeit hat er zum selben Thema verfasst