Der Exorzist

Lieder aus dem beschädigten Leben: Die manisch-depressive Lo-Fi Songwriter-Ikone Daniel Johnston ist zu Gast in Hamburg

von GREGOR KESSLER

Wer in Austin, Texas mit hoher Falsett-Stimme und billiger Casio-Orgel Lieder davon singt, wie er mit der Kuh Gassi geht, der darf allenfalls auf subversive Sympathien hoffen. Doch selbst die waren rar Anfang der Achtziger, als Daniel Johnston begann, seine Songs in die Welt zu streuen. So dauerte es eine Weile, bis sich herumsprach, dass ein manisch Depressiver mit wechselnden Aufenthalten zwischen Psychiatrie und einem Zimmer im Haus seiner Eltern herzrührige – avant le mot – Lo-Fi Love-Songs zwischen Hasil Adkins und den Beatles schrieb.

„I guess I lean towards the excessive/ But that‘s just the way it is when you‘re a maniac depressive“, singt Johnston auf Jip/Jump Music, seiner vielleicht konsistentesten Song-Sammlung. Exzessiv ist sein Output: 300 Songs hat er inzwischen geschrieben. Primitiv an der Grenze zum Exzess ist auch seine Aufnahmetechnik: Meist genügt ein Taperecorder, um die kratzigen Songs einzufangen, die er Spielzeug-Keyboards, Plastikgitarren und Pappschachtel-Schlagzeug entlockt. Und exzessiv ist vor allem die Direktheit von Daniel Johnstons Musik. Während seine helle, dünne Stimme durch die Lieder zu wehen scheint wie Laub durch herbstliche Straßen, bringen Texte und Intonation die Sache auf den Punkt. Die Themen sind die Großen: Sehnsucht, Verzweiflung, Liebe, Angst. Songs of Pain, Don‘t Be Scared und Songs Of More Pain heißen seine ersten Kassetten, und die Titel versprechen nicht zu viel.

Seit Mitte der Achtziger bahnen sich die irritierend unmittelbaren Aufnahmen des „Sorry Entertainer“ einen Weg auf die Seiten internationaler Fanzines. Im Windschatten der Erfolge von Bands wie Half Japanese und Beat Happening, die ähnlich wenig Wert auf Soundqualität und Virtuosität legen, wurden Homestead Records auf Johnston aufmerksam und veröffentlichten die besten seiner zahlreichen Tapes auf LP und CD.

Seither avancierte der scheue Mann, dem Antidepressiva heute die Köperfülle eines engagierten Brauerei-Verkosters beschert haben, zu everybody‘s darling. Von Yo La Tengo bis Kurt Cobain erklärt Anfang der Neunziger ganz Indie-County, Johnston sei Gott. Das dort inzwischen Bewegungscharakter annehmende Verlangen nach uninszenierter Authentizität, nach „ehrlicher“ Kunst und „wahren“ Emotionen, mit dem Bekanntwerden Daniel Johnstons nahm es Fahrt auf.

Nur Johnston selbst fühlt sich nach wie vor nicht wohl in seiner nun populärer gewordenen Haut. Noch immer schwankt die Intensität seiner Depressionen, führt dazu, dass er über Monate in die Psychiatrie wechselt. Schlimmstenfalls erweitert sein neuer Status als so genannte Kultfigur den Kreis seiner Ängste und Psychosen um die erdrückende Erwartungshaltung neuer Fans. Prompt lassen Kollaborationen mit glühenden Verehrern wie Sonic Youth oder Jad Fair die Originalität der Soloveröffentlichungen missen. Exzentrik ist kein Gastmusiker. Erst recht ist sie kein Wert an sich.

Inzwischen stimmt auch die deutsche Kritik in die Lobeshymnen ein. Als Johnston vor drei Jahren an der Berliner Volksbühne auftrat, wischte das Publikum nicht nur Tränen aus Augenwinkeln, sondern auch die Frage beiseite, welche Maßstäbe zu gelten hätten bei der musikalischen und lyrischen Verschrobenheit eines psychisch Kranken. Und ob denn überhaupt geklatscht werden dürfe, wenn da einer, sichtlich verstört, seine Dämonen besingt. Scheinbar gelingt der unterstellte Exorzismus.

Nachdem europäische Auftritte im Jahreswechsel angekündigt und „aus gesundheitlichen Gründen“ wieder abgesagt wurden, hat sich Johnstons Zustand inzwischen stabilisiert. Und so gibt es Grund zu der Hoffnung, dass man sich Sonntag nichts anderes vorzunehmen braucht.

Sonntag, 21 Uhr, Fabrik