: Wilde Loopingbahn
Ob Mauerblümchen oder Muskelberg – meistens ist es die Hölle. „Jimmy, Traumgeschöpf“ am Bremer Theater hat ernste Probleme mit seinem Schicksal
Eigentlich ist alles o.k. in Jimmys Leben. Ein eigener Frisörsalon, Kunden ohne Ende, verliebt bis über beide Ohren – was will man mehr? Dass er schwul ist, könnte ihm im New York der Fünfziger vielleicht Probleme bereiten, aber bisher läuft alles blendend.
Dann aber der GAU: Jimmy schwingt gerade fröhlich den Besen, als sich die Lippen des Soldaten Mitchell den seinigen langsam nähern. Mitchell, Objekt seiner Begierde, Verursacher seiner Schwellkörper-Schwellungen! Das Blut rauscht in Jimmys Kopf, unendliche Lust prickelt in seinem Körper. Doch zum Kuss kommt es nie. Exakt in diesem Moment nämlich versagt das Herz des Generals, der wichtigsten Person in Jimmys Leben: Er hat den schwulen Friseur in seinen Träumen kreiert und segnet nun im falschen Augenblick das Zeitliche. Denn mit dem Herzschlag steht auch die Zeit in Jimmys Traumwelt still. Hängen geblieben. Gibt es eine größere Enttäuschung als ein ewiges “kurz davor“?
„Jimmy Traumgeschöpf“ hat die kanadische Autorin Marie Brassard ihr Solostück genannt, das am Bremer Theater erstmalig in deutscher Sprache gezeigt wird. Brassard hat schon selbst als schwuler Pechvogel auf der Bühne gestanden, in Bremen ist das nun ein Mann: Siegfried W. Maschek steht auf der Bühne des Brauhauskellers und nestelt an seinen Fingern. Man möchte ihm sagen, dass alles gut wird, diesem Jimmy, und ihm über seinen messerscharfen Scheitel streichen. Es sei nicht leicht als Traumgeschöpf, erzählt er mit wohlig sanfter Stimme, meistens sei es die Hölle.
Jimmys bis zum Generalstod geradliniges Leben verwandelt sich alsbald in eine wilde Loopingbahn. Nach 50 Jahren Leere wird er plötzlich wieder geträumt, diesmal von Marie Brassard selbst, der „Schriftstellerin“, und die krempelt sein Dasein rigoros um. Er strauchelt von einer Wandlung zur nächsten: Er ist Yves Montand auf einer Flugzeugtoilette, dann Mutter Brassard in der Tierhandlung. In den kurzen Momenten vor dem nächsten Looping versucht Jimmy krampfhaft, sich zu ordnen, festzustellen, wer er ist.
Fabulös, die Leistung Mascheks: die Verwandlung von Jimmy Mauerblümchen in Jimmy, den glattrasierten Muskelberg. Die Augen immer wieder fragend, nach einer Erklärung suchend und dann wieder völlig wirr, von einer fremden Macht getrieben. Splitternackt versucht er, der Träumerin seinen eigenen Traum vom Badetag mit Mitchell aufzuzwingen. Es klappt nicht, Jimmy verliert die Kontrolle. Er onaniert auf der Bühne und ist, am Ende des Loopings, peinlich berührt von seiner Tat.
Brassard weiß ihr Publikum zu überraschen. Die Geschichte sprengt ihren eigenen Rahmen, wird zur abstrusen Aneinanderreihung von Fantasien. Jimmy wird zur Frau, dann wieder zum Mann. Er sieht dem Traumtod ins Gesicht und später doch noch seinen geliebten Soldaten Mitchell wieder: in einem Schlachtfeld, unerreichbar. Am Ende scheint er sich damit abzufinden, immer über einer Schlucht in die Leere zu baumeln. Die Schicksalsfäden halten andere in der Hand.
Susanne Polig
Die nächsten Vorstellungen von „Jimmy, Traumgeschöpf“ sind am 19. und 27. Oktober, jeweils um 20.30 Uhr im Brauhauskeller.
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