Automaten-Napping ist in

Seit einem Jahr steigt die Zahl der Banküberfälle wieder, nachdem sie vorher zehn Jahre lang sank. Schuld könnte der Euro sein. Oder die Räuber werden zu Serientätern, weil sie weniger erbeuten

von HANNO CHARISIUS

Die Deutschen lieben Geldautomaten, mehr noch als ihre Handys. Das ermittelten im Sommer die Allensbacher Demoskopen. Mehr als zwei Drittel gaben an, dass Cashmaschinen für sie „ein Gewinn“ seien. Auch Bankräuber sehen das so.

Bereits sechs Mal in diesem Jahr griffen in Berlin die Panzerknacker zu: Rein in den Automatenraum, Stahlseil um den Geldspender und rumms, das Teil mit dem Auto rausgerissen und abtransportiert. Dann in aller Seelenruhe geknackt. „Wenn die Zeit haben, kriegen die alles auf“, sagt René Allonge, Vize-Kommissariatsleiter beim Landeskriminalamt (LKA 422) „Einbruchssachen“.

Manchmal aber lassen die Ganoven ihre Beute auch auf der Straße liegen, wie im Juni, als Unbekannte mit ihrem Wagen durch die Glastüren eines Einkaufszentrums rasten, den Automaten herausschleiften und dann doch kalte Füße bekamen und türmten. Oder im März, als andere Räuber es nicht schafften, ihren rund 500 Kilo schweren Geldschrank auf die Ladefläche ihres Kleintransporters zu wuchten. Allonge will „nicht gerade von einem Trend sprechen“. 2001 habe es allerdings noch gar keine Automaten-Entführungen in Berlin gegeben.

Banditen passen sich eben auch zivilisatorischen Errungenschaften an. Der klassische Bankraub ist aus der Mode geraten. 1992 gab es 128 Überfälle auf Banken oder Postämter. 2001 sank die Zahl auf 28 – Rekordtief. 2002 jedoch könnte die Renaissance des hauptstädtischen Banküberfalls sein: „Bis Oktober wurden 42 Banken und 9 Postfilialen ausgeraubt“, resümiert Manfred Schmandra, der das Raubkommissariat LKA 421 leitet.

Schmandra widerspricht mit diesen Zahlen einer Gruselstatistik, die seit Donnerstag durch die Presse geistert. Im Zahlenwerk, das auf unbekannten Wegen aus dem LKA gelangte, sind die Delikte von Januar bis August 2002 im Vergleich mit den Vorjahreszahlen aufgelistet. Dem Papier zufolge stieg die Zahl der Banküberfälle um sagenhafte 89,5 Prozent. Schmandras Bilanz ist noch schockierender: Bis Mitte Oktober sollen es sogar 100 Prozent mehr Überfälle auf Banken als im gesamten Vorjahr sein. In den Postämtern hingegen war es ruhiger. Den Kommissar lässt die Trendwende kalt: „Man muss das ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Straftaten setzen.“ Gemäß internem Polizeipapier gab es 2002 in Berlin bis August dieses Jahres knapp 400.000 Straftaten. Über den plötzlichen Run auf Banken lasse sich nur spekulieren, betont Schmandra, der deswegen schon mit Vertretern der Sparkassen zusammensaß. „Vermutlich haben sich die Räuber 2001 wegen der bevorstehenden Euro-Umstellung zurückgehalten.“ Das würde das ruhigste Bankenjahr seit der Maueröffnung erklären.

Die rüde Art des Geldabhebens könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Täter im Frühjahr mit größeren Bargeldbeständen in den Filialen gerechnet haben. Irrwitzigerweise könnte sie auch mit den Sicherungstechniken selbst zu tun haben. „Die Beute ist wegen der gängigen automatischen Kassentresore inzwischen sehr gering“, erklärt Schmandra. Bargeld liegt kaum noch offen hinterm Tresen. „Weil die Täter nur kleine Mengen ergattern, ziehen sie häufiger los“, vermutet Kommissar Schmandra. Erfolgreiche Räuber werden zu Serientätern, weil sie ihren Geldhunger nicht mehr mit einem Überfall stillen können.

Den großen Coup hingegen gibt es nicht mehr. Dabei beheimatete Berlin einst mit den Gebrüdern Fritz und Erich Sass zwei, die mit ihren ausgebufften und pedantisch ausgeklügelten Brüchen in den späten 20er-Jahren zu Volkshelden aufstiegen.

Heute tragen die Beutezüge den Wesenszug der Beschaffungskriminalität. Ruckzuck, ungeplant. Häufig stehen die Täter unter Drogen. „Gescheiterte Existenzen“, sagt Schmandra, Täter, die das hohe Risiko nicht einschätzen können. Seine Aufklärungsquote ist hoch: 20 Fälle aus diesem Jahr haben der Kommissar und seine Beamten schon gelöst. Dazu „noch ein paar alte“.

Erleichtert zeigt sich Schmandra darüber, dass die Gewalt bei den Überfällen nicht zunimmt. „Zweimal in diesem Jahr wurden Kunden direkt mit einer Waffe bedroht, einmal ein Schuss in die Luft gefeuert.“ Solche Szenarien waren den Meisterdieben Sass fremd. Sie sezierten die Tresore klammheimlich mit ihren Schneidbrennern. Kein Mensch wurde – wenn alles gut ging – verletzt. Diese Technik immerhin verbindet den modernen Automaten-Napper mit den Schweißbrennervirtuosen Sass.