„Weg vom Lohnprozente-Ritual“

Wenn sich auf Bundesebene das Verständnis von Tarifverhandlungen nicht ändert, ist ein Solidarpakt in Berlin nicht machbar, meint der FU-Politikwissenschaftler Peter Grottian und schlägt eine Nullrunde im öffentlichen Dienst vor

taz: Herr Grottian, der vom rot-roten Senat angestrebte Solidarpakt mit den Gewerkschaften ist am Donnerstag gescheitert. Warum?

Peter Grottian: Die Vorstellungen von beiden Seiten liegen so weit auseinander, dass ein Kompromiss gar nicht möglich war – und das war vorher auch absehbar. Auf Berliner Ebene ist dieser Konflikt gar nicht zu lösen.

Und wie ist er lösbar?

Nur über eine Diskussion über die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Da brauchen wir einen radikalen Perspektivwechsel. Wenn Arbeitslosigkeit das wichtigste Problem der Republik ist, müssen Tarifverhandungen endlich mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze und auch mit der Finanzsituation der Kommunen gekoppelt werden. Wir müssen weg davon, dass bei Tarifverhandlungen nur über Lohnprozente gestritten wird. Das kann man sich mit Blick auf die Arbeitslosigkeit und so marode Haushalte wie in Berlin nicht mehr leisten. Aber Rot-Grün verliert zum Beispiel in der Koalitionsvereinbarung zur eigenen Rolle darüber kein Sterbenswörtchen.

Was muss passieren?

Mein Vorschlag wäre, für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst 2003 eine Nullrunde einzulegen und mit den eingesparten 5,5 Milliarden Euro neue Arbeitsplätze und innovative Dienstleistungen zum Beispiel im Bildungsbereich zu schaffen. Daraus könnten 220.000 neue Teilzeit- und Vollzeitstellen entstehen. Wenn sich die Wohlfahrtsverbände daran beteiligen, sogar 360.000. Gemeinden und Länder, deren Haushalte so marode sind wie in Berlin, müssten einen großen Teil des zu verteilenden Volumens zur Haushaltssanierung einsetzen können.

Die Gewerkschaften werden begeistert sein. Aber im Ernst: Sehen Sie auf einer der beiden Seite Bewegung?

Noch nicht. Die öffentlichen Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind so verkrallt in ihr Tarifritual, dass sie machtpolitisch alles darauf setzen, dass genau diese Form des Lohnprozente-Rituals nicht angetastet wird. Aufbrechen kann das nur eine provokante öffentliche Debatte, in der auch Sondersituationen und Öffnungsklauseln in Tarifverträgen kein Tabu mehr sein dürfen.

INTERVIEW: SABINE AM ORDE