Sein Feind ist der Baum

Sozialanomalien: Motorradfahrer leben in ständiger Gefahr – und haben Spaß dabei

Abgasruß und Gummiabrieb von 100.000 Kilometern rieseln aus seinen dicken Handschuhen

Motorradfahrten enden, wie man weiß, bevorzugt und rasch an Bäumen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Der Motorradfahrer steht viel komplexeren Gefahren gegenüber, die das aus ihm gemacht haben, was er ist, ein sozial verstörtes, gerädertes Wrack! Er sieht sich von allem und jedem bedroht: von Gullydeckeln, faulem Laub, Ytongs, überfahrenen Igeln, Wanderern, Postboten, Gewittern oder fliegenden Hundenäpfen, und wappnet sich daher mit allem hierzu Tauglichem.

Er schlüpft in wollene Ganzkörperkondome, überstülpt sich mit figurverschandelnden Wülsten aus Leder und kaschiert letzte Freiflächen seiner geplagten Haut mit Sturmhaube, Terroristenhalstuch und Integralhelm. Recht gewaltbereit steht er da in seiner gelben Lederjacke, die von Baumsäften, zerschellten Flugobjekten und den sterblichen Überresten veritabler Großinsekten unerhört nachgedunkelt ist. Der Abgasruß und Gummiabrieb von 100.000 Kilometern rieseln aus den dicken Handschuhen. Seine Stiefel sind vom Kurvenfahren außen abgeplattet, die Ellenbogen seiner Jacke fast durchgescheuert.

Ganz klar, dass er überall – sei’s im Sterne-Restaurant, sei’s im Supermarkt – in ein schiefes Licht hineintappt. Mit dem Finger deutet man auf ihn und fühlt sich selbst des Fürchtens belehrt.

Der Biker ergreift infolgedessen motorisch die Flucht, bloß mit seinesgleichen in bewegter Manier noch durch Zeichensprache verbunden. Der angewinkelte Unterarm und die flache Handfläche, mit der sich einander begnende Motorradfahrer grüßen, bedeuten nichts anderes als „Alle Autofahrer gehören geohrfeigt.“

Doch die Schlechtigkeit der Welt bleibt ihm unerschrocken auf den Fersen und ereilt ihn noch in Gestalt des plötzlichen Verzögerns, notorischen Langsamfahrens und unangekündigten Abbiegens der Vierrädrigen. Umsichtig meidet der Biker den Infarkt der Ballungsräume, hastet enerviert durch den Permastau der Autobahnen, überholt todesmutig endlose Schleicherkolonnen hinter Treckern und Planwagen auf der Suche nach beschleunigter Einsamkeit.

Seine Manöver mögen aus dem Schildkrötenpanzer des Automobilisten betrachtet gewagt erscheinen, doch der Biker weiß nach Jahren überstandener Lebensgefahr, vielen Stürzen und Umfallern, was er tut. Längst hat er seine Grenzen ausgelotet, heckschleuderndes Bremsen auf regennasser Fahrbahn geübt sowie einsame Schlammschlachten auf morastigen Agrarwegen ausgefochten. Als fahrender Seismograph kennt er alle Straßenbeläge und rollt gar problemlos auf schneebedeckter Eisfläche ab. Seine Gelenkigkeit wächst mit jedem Ausflug. Das vor Dellen und Kratzern strotzende Gefährt des Asphaltakrobaten verströmt erwartungsfreudig authentisch-frischen Benzingeruch.

Die Isolation des Kraftradfahrers geht noch über die des Kakteenzüchters oder des fachidiotischen Elektronikbastlers hinaus, welche ja ein relativ normales Leben außerhalb ihrer Wahnwelten führen dürfen. Beim Biker gibt es diese Trennung nicht, wie aus seinen Hand- und Bewegungen in Schlafstudien hervorgeht, die auf unentwegtes Bremsen, Kuppeln und Schalten hindeuten.

Allenfalls für Gleichgesinnte hat er da und dort ein Wort meist technischen oder topographischen Inhalts parat, wenn er denn überhaupt jemals ruhig und gesprächig wird, denn er trifft seine Artgenossen bloß vor Imbissbuden an entlegenen Bergpässen oder in schadenfrohen Gelagen an den einschlägig bekannten Haarnadelkurven größerer Waldgebirge, so genannten „Biker-Treffs“.

Da werden dann beim Genuss von harmlosen Rauschmitteln, während man Neulingen beim Hinfallen zusieht, die Mythen der Motorradgesellschaft reproduziert: Wie die nächtliche Überlandfahrt ohne Licht zum Horrortrip geriet, wie der Kettenriss in der Einöde den Kauf eines Handys motivierte oder sich der Zündschlüssel am Schlüsselbund bei voller Fahrt über die Brücke in die unwegsame Wildbachschlucht verabschiedete.

Auch der Berichterstatter wird gesprächig, indem er etwa jenes Hundenapfes aus verchromtem Edelstahl gedenkt, der ihm bei voller Fahrt vom Dach einer Mittelklassekarosse Ufo-artig entgegenflog und Frisbee-gleich am Helm abprallte, während ihn der Hund hinter der Heckscheibe wütend beäugte.

Zur seltenen Linderung der Einsamkeit des Motorradfahrers dient zuletzt nur noch der Sozius- (meist Sozia-) Sitz, denn nichts freut ihn mehr als die Frage: „Kann ich vielleicht einmal mitfahren?“ Selbst dem Fehlen eines zweiten Helms wird dann nicht selten heldenhaft getrotzt, und es steht im Ehrenkodex aller Biker, dass der beifahrenden Person der Helmschutz gebührt, während der spinnerte Fahrer gefälligst selbst seinen Kopf aufs Spiel setzen muss.

Kopf und Spiel verliert er spätestens, wenn unerwartet der grün-weiße Wagen mit dem blauen Blinklicht um die Ecke biegt, aus dem dann die berüchtigte rot beleuchtete Kelle aus dem Seitenfenster geschwenkt wird.

Oder einfacher noch und endgültig an seinem erbittertsten Feind – dem nächsten Baum am Straßenrand. TOM WOLF