Inzestuöses Knistern

Immer auf der Suche nach einem schönen Regelverstoß: Der englische Künstler und Unternehmer William Turner ist die Hauptfigur in James Wilsons historischem Roman „Der Schatten des Malers“

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Kunsthistoriker und der Künstlerroman: Das ist oft eine zähneknirschende Freundschaft. Zu oft braucht die Gattung des Künstlerromans, um das Beunruhigende und Inkommensurable der Kunst zu vergegenwärtigen, das Geheimnis und die Psychologie, die Kriminalgeschichte oder den pathologischen Verdacht.

In dieses Muster passt „Der Schatten des Malers“ von James Wilson über William Turner. Ästhetische Abhandlungen über das Erhabene und das Schreckliche in den Landschaften William Turners müssen nicht mehr geschrieben werden. Es gibt sie zur Genüge, und sie haben wohl kaum eine Chance, in die Auslagen der Buchgeschäfte zu rücken. Der biografische Roman dagegen, der nach Wahnsinn und anderen Verstößen gegen die Norm im Leben des Künstlers forstet, hat da größere Chancen.

James Wilson, Historiker aus England, weiß viel über den akademischen Kunstbetrieb des 19. Jahrhunderts. Er ahnt wohl, dass die Absonderlichkeiten in der Lebensführung des Malers eine Reaktion auf den Dünkel sind, mit dem der alte Adel soziale Aufsteiger in ihre gesellschaftlichen Schranken weisen wollte. Der Maler, dessen ästhetische Innovationen so provozierend wirkten, durchbrach auch mit seinem Erfolg als Unternehmer die geltende Gesellschaftsordnung. Das Klischee von Genie und Wahnsinn war schon zu Lebzeiten Turners ein Instrument, sich das Unbedingte und Regeln Überschreitende der Kunst vom Leibe halten zu können. Wilson weiß das und lässt dieses Wissen in wenigen Episoden aufblitzen. Als fiktiven Biografen Turners aber wählt er einen jungen Mann, der in diesen Dingen weitaus unbedarfter ist.

So wird Walter Hartright eingeführt, ein nicht sehr erfolgreicher Maler, der wenige Jahre nach dem Tod Turners 1851 den Auftrag erhält, dessen Biografie zu schreiben. Aus den Notizen und Briefen an seine Frau und aus dem Tagebuch seiner Schwägerin Marian erfährt der Leser die mühsame Recherche nach dem Leben eines Mannes, der seinen öffentlichen Erfolg als Künstler und sein Privatleben auseinander zu halten suchte. Das ist eine Geschichte mit viel Nebel über der Themse, falschen Fährten, Intrigen, dunklen Abgründen, Wasserleichen und lasterhaften Kaschemmen – kurz, die ganze Schauerromantik, die das 20. Jahrhundert für das 19. noch einmal kräftig nachkoloriert hat.

Selbst ein inzestuöses Knistern zwischen Walter und seiner sister-in-law Marian bleibt dem Leser nicht verborgen. So wird die Möglichkeit der Katastrophe, die in Turners Landschaften und Historienbildern immer durchscheint und Walter und Marian beunruhigt, letzten Endes heruntergekocht auf das Unglück einer verfehlten Liebe.

Nur einmal deutet sich ein paar Seiten lang die Hybris eines Jahrhunderts an, das dem eigenen Fortschritt misstraut und seine Folgen fürchtet – wenn Walter einen der Großindustriellen, die Turners Bilder kauften, besucht und Zeuge eines Grubenunglücks wird. Aber auch diese Spur verliert sich wieder in Walters persönlichem Drama.

Denn Walter ist – da lässt der Autor James Wilson keinen Zweifel – ein schlechter Maler, begabter als Chronist denn in der Umsetzung neuer Seherfahrungen. Er fürchtet als Künstler die eigene Beschränktheit und versucht auf den vermeintlichen Spuren Turners durch die sexuelle Grenzüberschreitung zu neuen Horizonten vorzudringen: eine jämmerliche Karikatur des Künstlers als Tabubrecher.

Das könnte ironisches Spiel sein, doch tatsächlich läuft der Roman zu großer Trivialität auf, wenn Hartright das Geheimnis in Turners Leben in den Betten irgendwelcher Huren aufzustöbern sucht. Ernsthaft: Will irgendjemand wirklich wissen, mit welchen sexuellen Praktiken sich Turner die Einsamkeit von der Seele schrubben wollte? Hartright wird wahnsinnig. Recht geschieht ihm.

James Wilson ist als Romanautor eine ehrliche Haut. Er hat sich, bekennt er in einer Nachbemerkung, Walter und Marian ausgeliehen aus der „Frau in Weiß“, einem viktorianischen Bestseller von Wilkie Collins. Mit Collins aber vertraut sich Wilson der sentimentalen und domestizierten Seite der Romantik an, statt sich auf ihre Wagnisse einzulassen: Hätte er mehr auf sein kulturhistorisches Wissen und weniger auf populäre Charaktere gesetzt, wer weiß …

Die wenigen schönen Passagen des Romans stammen aus der Feder von Marian. Sie wird für uns in ihren Tagebuchaufzeichnungen zur stellvertretenden Bildbetrachterin, und mit ihr rekonstruiert Wilson die Begeisterung, den Schock, das Befremden und das allmähliche Erkennen in der Rezeption Turners im 19. Jahrhundert.

James Wilson: „Der Schatten des Malers“. Aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann. Insel Verlag, Frankfurt a. M., Leipzig 2002, 512 Seiten, 24,90 €