NICHT DER BLAUE BRIEF, SONDERN DIE VERSCHULDUNG IST DAS PROBLEM
: Versetzt werden nur die Lernwilligen

Die Deutschen dürfen sich wie brave Kinder fühlen, bis auf weiteres jedenfalls: Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten prognostiziert, dass wir im nächsten Jahr das Euro-Stabilitätskriterium erreichen. 2003 werden Bund, Länder und Gemeinden nur noch neue Schulden von 1,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) anhäufen.

Was für eine Erleichterung. Alles scheint wieder in Ordnung zu sein, sobald EU-Währungskommissar Pedro Solbes nicht mehr mit uns schimpfen muss. Nun müssen wir wahrscheinlich doch keinen „blauen Brief“ befürchten, der an die Elternschreiben erinnert, die die Schule verschickt, wenn die Versetzung der Kinder gefährdet ist.

Aber wäre es so schlimm gewesen, wenn der Spätentwickler Deutschland genauso über die Stränge geschlagen hätte wie der Klassenletzte Portugal? Die Kameraden in der Euro-Klasse hätte es eigentlich nicht stören müssen. Ursprünglich sollte das Defizitkriterium verhindern, dass einige Staaten so viele Schulden machen, dass in ganz Euroland Inflation und Währungskrisen ausbrechen. Davon ist jedoch nichts zu sehen. Die deutsche Teuerungsrate wird im nächsten Jahr mit 1,6 Prozent prognostiziert. Und der Außenwert des Euros ist ungefährdet, weil auch die großen Konkurrenten Japan und die USA in der Krise stecken.

Allerdings, zugegeben, waren einige der Klassenbesten nicht begeistert, dass sich die Deutschen beim Defizit als so lernresistent erwiesen. Gerade die kleinen Euroländer beschwerten sich, weil sie die Stabilitätskriterien eingehalten hatten. Es sei ungerecht, dass die Großen wie Italien, Frankreich oder Deutschland einfach machten, was sie wollten. Das stimmt. Trotzdem ist diese Diskussion ein wenig bizarr: Es wird so getan, als sei es ein Privileg, Schulden zu machen. Dabei ist dies die absolute Notlösung: Je sparsamer die Schüler sind, umso mehr Freiheiten haben sie in der Zukunft.

Die Verbote von Lehrer Solbes wirken paradox: Sie sehen aus wie Willkür, denn die Kinder haben vergessen, dass es keine Alternative zum Sparen gibt. Wer die Hausaufgaben gemacht hat, mag sich ärgern, wenn andere davon befreit werden. Aber profitieren werden am Ende nur die Lernwilligen.

Deutschland wird nicht dazugehören. Denn im nächsten Jahr werden dem Schröder-Kabinett noch so viele gute Gründe für mehr Schulden einfallen, wie es unbefriedigte Begehrlichkeiten gibt. Daher eine Wette für den Pausenhof: Die Herbstgutachter haben sich geirrt – die deutschen Defizite werden 2003 über 1,9 Prozent des BIP liegen.

ULRIKE HERRMANN