Doppelmoral der Wirtschaft

Die GEW erhebt schwere Vorwürfe: Industrie ist vehement dagegen, dass sich der Staat in die „duale Ausbildung“ einmischt – aber kürzt immer mehr Lehrstellen

BERLIN taz ■ So hart hat man das lange nicht mehr gehört. In der Wirtschaft bestehe „eine nicht hinnehmbare Doppelmoral“, schimpfte die Referentin. Auf der einen Seite wendeten sich die Herren der Industrie gegen staatliche Eingriffe in die althergebrachte berufliche Bildung. Auf der anderen Seite, fuhr die erboste Frau fort, stellten Unternehmer „bei weitem nicht genügend Ausbilungsplätze zur Verfügung.“ Die Folgen seien brutal: Deutschland steuere in wenigen Jahren auf einen Fachkräftemangel zu. Und schon heute entlasse man junge Ungelernte in eine ungewisse Zukunft.

Die böse Zunge gehört Ursula Herdt, die Berufsbildungsexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist. Die GEWlerin hat sich ein beinahe heiliges Datum ausgesucht, um über das Lehrlingswesen herzuziehen. Am heutigen Mittwoch beginnt in Berlin ein großer Kongress, der die deutsche Spezialität der dualen Ausbildung – in Betrieben und Berufsschulen – wieder in höchsten Tönen loben wird. „Berufsbildung für eine globale Gesellschaft – Perspektiven im 21. Jahrhundert“ heißt der Kongress und Bundespräsident Johannes Rau wird ihn eröffnen.

Nun ist die GEW nicht gerade für Untertreibungen oder lobende Worte bekannt. Herdt freilich untermauerte ihre Philippika mit vielerlei Fakten: Immer weniger Jugendliche haben die Chance, einen Ausbildungsberuf zu bekommen. Gab es 1985 noch über 700.000 Auszubildende in Deutschland, so nähert sich ihre Zahl nun wieder dem historischen Tief. Das wurde Anfang der 90er-Jahre verzeichnet. Damals hatten gerade noch 540.000 Jugendliche einen Lehrherrn gefunden. Im Jahr 2002 werden es rund 590.000 sein – Tendenz weiter stetig fallend.

Die Zahlen finden die GEWler vor allem aus einem Grund alarmierend: Es geht nicht mehr um einen konjunkturellen Abschwung am Ausbildungsmarkt. „Das viel gerühmte duale Ausbildungssystem steckt längst in einer schweren Strukturkrise“, meint Herdt. Noch in den 70er-Jahren folgte die sinkende Zahl der Ausbildungsplätze in Deutschland der wirtschaftlichen Entwicklung. Inzwischen sinkt die Zahl der Lehrstellen unabhängig davon, ob die Ökonomie boomt oder lahmt. „Junge Leute auszubilden gehörte früher zur betrieblichen Kultur des Landes“, sagt die GEW-Bildungsexpertin. Heute hingegen seien die Unternehmen einem rigiden Kostenmanagement unterworfen. Und einer der ersten Streichfaktoren sei: die Ausbildung junger Leute.

Besonders tragisch ist die Situation in den neuen Ländern. Obwohl die Arbeitsteilung zwischen Lehrbetrieb und staatlicher Berufsschule ständig gelobt werde, ist sie in der Ex-DDR nie recht angekommen. Die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange sagt: „Im Osten hat diese Art der Berufsbildung nie Fuß gefasst.“ Stange stammt selber aus der DDR und konstatiert bitter, dass „dieser Zustand keine Übergangssituation ist. Es geht stetig bergab mit Ausbildungsplätzen, allein Thüringen verliert jedes Jahr 1.000 Lehrstellen.“

Der Gesetzgeber scheint etwas von der Strukturkrise erkannt zu haben. Rot-Grün notierte in den Koalitionsverhandlungen, dass das Berufsbildungsgesetz nach 33 Jahren überarbeitet werden müsste. Was die GEW sich wünscht, steht im Vertrag allerdings nicht drin: Eine Ausbildungssteuer – um Wirtschaft und Bürger gesetzlich zu zwingen, den Lehrstellenmarkt gerechter zu finanzieren.

CHRISTIAN FÜLLER