Afrikanische Wahrheiten

Von der komplizierten, fast unmöglichen Suche nach Versöhnung in Post-Apartheidssystemen: Die Inszenierung „Truth“ auf Kampnagel widmet sich Altlasten des belgischen Kolonialismus

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Wie lässt sich die Multidimensionalität von Wahrheit ästhetisch-verständlich darstellen? Um dies zu demonstrieren, hat das Festival Politik im freien Theater die Berliner Produktion Truth eingeladen, die morgen auf Kampnagel gezeigt wird. Anhand der belgischen Kolonialgeschichte im Kongo und der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission fächern der Regisseur Hans-Werner Kroesinger und der niederländische Videokünstler Rob Moonen die Frage nach Wahrheit sowohl in ihren historischen und postkolonialistischen Dimensionen, als auch in das Verhältnis von Tätern und Opfern auf.

Aufhänger von Truth – Untertitel: commissioned by the heart of darkness – ist die Erzählung Im Herz der Finsternis (1899) des englischen Schriftstellers Joseph Conrad, der eine Flussfahrt in den Kongo schildert. Der Kapitän des Schiffes trifft dort auf den dämonischen Outlaw und Usurpator Kurtz, der das frisch besetzte – „kolonialisierte“ – Afrika nach Elfenbein und Kautschuk durchplündert.

1885 hatte der belgische König Leopold II. das Kongo-Gebiet als Privatbesitz erhalten und die rücksichtslose Plünderung von Naturschätzen sowie massiven Sklavenhandel und Sklaverei begonnen. Fünf bis acht Millionen Kongolesen kamen dabei ums Leben; Sklaven wurden zur Bestrafung Hände und Füße abgehackt.

Doch auch nach dem Ende der belgischen Kolonialherrschaft 1960 nahm die Ausbeutung des Landes kein Ende: Premierminister Patrice Lumuba wurde 1961 ermordet; er hatte die ausbeuterische Rolle der internationalen Konzerne in Kongo angeprangert. Vier Jahre später putschte sich mit Joseph-Désiré Mobutu (mit US-Unterstützung) ein kleptokratischer Diktator an die Macht. Und auch der momentan größtenteils befriedete Krieg im Kongo ist ein Stellvertreterkampf zwischen lokalen und internationalen Mächten und Konzerninteressen um die Ausbeutung von Diamenten-, Rohstoff- und Ölvorkommen und – viel bedeutender – die dazugehörigen Handelskonzessionen.

So tief steigt die Inszenierung von Truth allerdings gar nicht in die kongolesische Geschichte ein. Sie wendet sich vielmehr im zweiten Teil der Suche nach Wahrheit und Versöhnung nach dem Ende totalitärer Systeme, wie dem südafrikanischen Apartheid-Regime, zu. Dort wurde im Dezember 1995 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission unter der Leitung von Bischof Tutu eingesetzt, die „die sozialen und politischen Dimensionen als Raum kollektiven Verhandelns innerhalb einer Zivilgesellschaft miteinbezieht“.

So definierte jedenfalls der diesjährige Kurator Okwui Enwezor auf der zweiten documenta-Plattform, die unter dem Titel Experimente mit der Wahrheit stattfand, die eigentliche Aufgabe der Kommission. Wahrheit beschreibt er als „ontologisches, ethisches, juristisches und philosophisches Problem“. Überall, wo Bürgerkriege stattfänden oder totalitäre Regime zusammenbrächen, müssten neue Konzepte von Gerechtigkeit entworfen werden. In der Wahrheitskommission wurden Opfer und Täter der Apartheid gehört, um die Menschenrechtsverletzungen des Apartheid-Regimes aufzudecken und zu dokumentieren und Gerechtigkeit wiederherzustellen; Amnestie für die Täter wurde keineswegs automatisch erteilt.

Die heikle Prozedur, die viele Opfer, die die Verbrecher lieber vor Gericht gesehen hätten, unzufrieden lässt, wirft die Frage nach der Möglichkeit von Gerechtigkeit und Wahrheit auf. Und für den Kongo steht dieser Prozess allemal noch aus. Am Beispiel Südafrikas erläutert Enwezor: „Eine angemessene Darstellung der Tragweite der Gewaltausübung durch den Staat muss im Kern die Stimme der Opfer enthalten, um der Konstruktion der Rechtsprechung etwas entgegenzusetzen.“

Um eine eigene Stellungnahme zu vermeiden, lassen Truth den belgischen König Leopold II. und den britischen Konsularbeamten Casement, der 1903 einen niederschmetternden Bericht über Belgisch Kongo veröffentlichte, sprechen. In der zweiten Hälfte kommen Richter, Schreibtischtäter und Geheimagenten zu Wort. Jeder Zuschauer muss sich in der Bühnenraum-Installation von Truth seinen eigenen Blickwinkel auf „die Wahrheit“ suchen.

Premiere: morgen, weitere Vorstellungen: 26.+27. Oktober, jeweils 19.30 Uhr, Kampnagel