Der Tod ist beschlossene Sache

Das Theater auf der Suche nach sich selbst: Die Weitläufigkeit des Wirklichen als bewusste Überforderung. Maxim Billers erstes Bühnenstück „Kühltransport“ erhält in der Regie von Nora Somanini im Dresdner Theater dennoch präzise Konturen

Wenn es anfängt, ist die Katastrophe schon eingetreten. Der Tod, der am Ende des eineinhalbstündigen Theaterabends nüchtern festgestellt wird, ist längst beschlossene Sache. Zum Bühnentod aber braucht es einen dramaturgischen Grund. Er könnte in der Geschichte selbst liegen oder in den psychologischen Verstrickungen der Figuren, dem Schicksal oder dem Zufall. „Kühltransport“, das erste Stück des auf Provokation gebuchten Journalisten und Schriftstellers Maxim Biller, sucht seine Dramaturgie im Zeitgeschehen: Er will einen wahren Fall protokollieren.

Ausgangspunkt seines Stückes ist der Juni 2000: In Dover werden 58 tote Chinesen gefunden, erstickt in einem Container. Fünf der illegalen Flüchtlinge, Opfer skrupelloser Schmugglerbanden, gibt Billers Text Stimme und Gestalt. Die Figuren sollen dabei immer alles zugleich sein, Schmuggler und Geschmuggelte, englische Beamte und chinesische Familieangehörige. Wir haben es mit verschiedenen Blicken auf eine authentische Geschichte zu tun. Mehr noch: Keine überschaubare Dramensituation ist gegeben, die über Geschäfte verbandelte Welt in ihrer Gänze ist gemeint. Biller handelt sich damit ein, was bei den heute schreibenden Theaterautoren von Gesine Danckwart bis Klaus Chatten allerorten anzutreffen ist: Die Weitläufigkeit des Wirklichen soll in der Weitläufigkeit der Dramaturgie aufgefangen werden. Ein gewagter Spagat und immer auch eine kalkulierte Überforderung des Theaters.

Man kann Billers Stück, das am Staatstheater Mainz und in Dresden fast zeitgleich herauskam, daher symptomatisch für den Zustand der Gegenwartsdramatik nehmen: Der Text hat keinen klaren Konflikt, weil in unserer ungeformten, ungestalteten Gegenwart die Konflikte nicht mehr ablesbar sind. Er hat auch keine dramaturgische Mitte, weil zu unserer globalisierten Welt gehört, ohne identifizierbare Mitte zu sein. Biller versucht das Unmögliche: Er will Realität nachahmen, die durch Nachahmung nicht mehr einzufangen ist. Das ist das Problem von Dramatikern, die auf politische, gesellschaftliche Realität reagieren wollen: Die Referenz verschwindet ins Diffuse. Billers Text ist folglich vor allem eines: immer unterwegs, nie festlegbar, auf allen Ebenen und nirgends zugleich.

Die Regie ist damit vor erhebliche Herausforderungen gestellt: Für sie sind Figuren kein Problem, sie sind zuallererst Menschen auf einer Bühne. Der Inszenierung von Nora Somaini am Dresdner Theater in der Fabrik ist das Ringen mit der Textpartitur anzusehen: Sie sucht hinter den Biller’schen Problemfiguren spielbare Bühnensituationen. Denn der Biller’sche Fall wird nur möglich, wenn er sich durch Schauspieler ereignet. Die Schweizer Regisseurin, die in der vorvergangenen Saison an gleicher Stelle eine grandiose Sarah-Kane-Inszenierung geschaffen hat, schneidet darum ihre Arbeit ganz auf die Darsteller zu. Die vier Männer und eine Frau sind hier, was sie bei Biller nicht sind: greifbare, konturierte Figuren. Fast alles an dieser Inszenierung lebt von der präzise gearbeiteten Spiel- und Sprechhaltung, die Anna Stieblich und Sven Tjaben am genauesten umsetzen. Es ist eine Haltung, die Identifikation verhindert, die Situation aber einsehbar macht.

Während bei Biller die Figuren Opfer einer Zwangslage sind, wird bei Somaini die dramatische (Zwangs-)Situation aus den Figuren entwickelt. Den Rest besorgt die Bühne von Doey Lüthi: In spitzem Winkel öffnen sich zwei vernietete Blechwände zum Publikum, die Container, Sarg und Schiffsbug zugleich andeuten. Dieses Vehikel belegt aber nur einen kleinen Teil des tiefen Raums. Dahinter gähnt Leere, Abgrund, Schwärze. Und weil die Erinnerungsmonologe, zerstückelten Gespräche, Vor- und Rückblenden von Somaini einem strengen Rhythmus unterzogen wurden, entsteht eine bedrückende Atmosphäre des Verlorenseins.

Was Biller an seinem konkreten Fall nur protokolliert, wird bei Somaini zu universellen Bühnenerlebnissen dramatisiert: „Zum Sterben braucht man nur lebendig zu sein“, wie es Jorge Luis Borges formuliert hat. Und für einen Bühnentod, der weder gefühlige Identifikation noch billige Entrüstung auslösen soll, braucht es eine Inszenierung, wie sie am Theater in der Fabrik in Dresden zu erleben ist.

DIRK PILZ

„Kühltransport“, Theater in der Fabrik, Dresden, 26. + 27. Oktober