Bild und Spiegelbild

In unserem Universum gibt so gut wie keine Antimaterie. Der Schlüssel liegt in der grauen Vorzeit, als Materie und Antimaterie heftig miteinander reagierten. Unsere heutige Welt existiert nur, weil die beiden Materiearten asymmetrisch verteilt waren

von JOACHIM EIDING

Gebannte Augen starren auf den Großbildschirm der Kommandobrücke. Große, grün schimmernde Kampfkreuzer nähern sich dem bekannten Raumschiff „U.S.S. Enterprise“. Entschlossen drückt er den Knopf auf seinem Armsessel: „Hallo Scotty? Werfen Sie die Materie-Antimaterie-Triebwerke an! Warp 2!“ Was vielen Fans der amerikanischen Kultserie „Raumschiff Enterprise“ längst vertraut ist, steht wissenschaftlich noch weit in den Sternen – die Materie-Antimaterie-Triebwerke.

Was aber ist Antimaterie eigentlich? Dies klärt ein Blick auf die Welt der Elementarteilchen: Das uns bekannte Universum besteht aus Atomen, die sehr lange als die kleinsten, unteilbaren Bausteine betrachtet worden waren. Im Bohr’schen Atommodell von 1912 umkreisen die sehr kleinen, negativ geladenen Elektronen den Atomkern, der die sehr viel größeren Protonen mit einer positiven Ladung und die neutralen Neutronen enthält. Seit dem Einzug der Quantenmechanik von Werner Heisenberg von 1925 wissen wir, dass die Elektronen als negativ geladene Wolken um den Kern verschmiert sind. 1928 widmete sich schließlich der englische Theoretiker Paul Dirac der Aufgabe, Einsteins Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik zu verbinden.

Aufgrund seiner Berechnungen postulierte er zum Erstaunen der Fachwelt erstmals ein Teilchen von der Masse eines Elektrons, aber mit positiver Ladung. Als drei Jahre später der amerikanische Physiker Charles Anderson in Pasadena dieses Teilchen in der kosmischen Strahlung tatsächlich entdeckte, galt die Existenz des Antiteilchens als gesichert.

Dirac ging mit seiner These noch weiter, behauptete, zu jedem Teilchen müsse es auch ein entsprechendes Antiteilchen geben. Nach aktueller Theorie verfügen sie über eine genau entgegengesetzte Ladung. Aber auch die Parität – der Drehimpuls – bekommt ein anderes Vorzeichen, so dass sich beide Partikel exakt wie Bild und dazu passendes Spiegelbild verhalten.

So existiert zum sehr kleinen Elektron das so genannte Positron, mit gleicher Masse nur positiver Ladung. Wobei ebenso der Drehimpuls, vor allem der Spin von 1/2, umklappt.

Aus dem Proton wird so ein Antiproton, wobei das Proton als schweres Teilchen wiederum aus drei Quarks besteht und das Antiteilchen aus Antiquarks. Jedoch verfügen auch Partikel ohne Ladung über einen Antipoden; daher gehört zum Neutron auch ein Antineutron.

Dies gilt für den gesamten Zoo der Elementarteilchen, aber Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Masselose Energieteilchen wie die Lichtquanten (Photonen) gehen leer aus. Sie sind ihre eigenen Antiteilchen.

Warum aber ist in dem uns bekannten Teil des Universums die Antimaterie so spärlich vertreten? Grund dafür ist, dass sich Materie und Antimaterie, sofern beide aufeinandertreffen, nicht verstehen. Laut Einsteins berühmter Gleichung wird die Masse dann komplett als gestrahlte Energie wieder frei.

Wenn aber beide Materiearten sich gegenseitig vernichten, mag sich mancher fragen, wieso wir überhaupt existieren. Denn nachdem sich das Universum vor 15 Milliarden Jahren in einer gigantischen Explosion ausbreitete, müssten nach logischem Verständnis Materie und ihr Gegenstück in gleichen Mengen existiert haben.

Dafür gibt es nach dem Astrophysiker Dieter Herrmann, Direktor der Berliner Archenhold-Sternwarte und des Zeiss-Planetariums, nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder haben sich die Antiteilchen im Prozess der Entwicklung des Universums rasch von der Materie separiert oder die Anzahl der Teilchen und der Antiteilchen war ungleich verteilt.

Es spricht viel für die zweite These, mag doch niemand ernsthaft erwägen, dass sich beide Teilchenarten trennen, ohne sich vorher in einem grellen Blitz gegenseitig zu vernichten. Vieles deutet daher auf eine leichte Asymmetrie zugunsten unserer Materie.

Dafür gibt es sogar einen experimentellen Nachweis: So findet man heute im Universum eine Milliarde mal so viele Lichtquanten (Photonen) als Materieteilchen wie Protonen, Neutronen und Elektronen. Bei den Photonen handelt es sich um die Energie, die bei der gegenseitigen Vernichtung von Materie und Antimaterie entstanden ist. Also, so die Folgerung, hatte unsere Materie einen leichten Überschuss von einem Milliardstel. Dieser Umstand erklärt sich mit einer Brechung der anfangs vollkommenen Symmetrie: Während des ersten Sekundenbruchteils nach dem so genannten Big Bang herrschten unvorstellbare Temperaturen.

Das noch sehr junge Universum entsprach einer sehr heißen Teilchensuppe. In diesem Energiebrei konnten sich mehr Quarks als Antiquarks bilden. Nach weiterer Expansion des Alls blieb dieses Ungleichgewicht bestehen. Dadurch bildeten sich wiederum mehr Protonen und Neutronen als ihre Antiteilchen.

Allerdings mag die Willkür der Natur, eines Spezies von zwei möglichen zu bevorzugen, nur schwer einleuchten. Gilt doch das bekannte CPT-Theorem als universelle Erhaltungsgröße aller Vorgänge in der Natur. Wobei C für die Ladung (Charge), P für die Parität (Parity; gemeint ist Drehimpuls, Spin) und T für die Zeit (Time) steht.

Werden alle drei Größen gleichzeitig verändert, entsteht ein symmetrischer Prozess. Werden jedoch nur eine oder zwei Größen umgedreht, bricht die Symmetrie. So konnte 1957 die Kernphysikerin Chin Shun Wu an der Columbia Universität in New York nachweisen, dass der Beta-Zerfall des Kobaltisotops 60 die Erhaltung der Parität (des Spins) verletzte.

Sieben Jahre später gelang es den Amerikanern Val Fitch und Joseph Cronin, den Zerfall neutraler K-Mesonen – mittelschwere Teilchen – zu untersuchen. Resultat: Die Lebensdauer dieser Teilchen ist knapp größer als die ihrer Antipoden. Interessanterweise verletzte hier die gleichzeitige Umkehr der Ladung und der Parität die Gesamtsymmetrie. So war die Brechung der Symmetrie bewiesen.

Offen bleibt die Frage, warum die Natur oft nur eine von zwei fast identischen Versionen der gleichen Spezies bevorzugt. Fest steht jedoch, dass gerade deshalb Materie und alles Leben existiert. Wäre in der Natur alles symmetrisch, würde es uns eben nicht geben.